Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
sich auf den Boden rollen. Er pfiff durch die Zähne. Drei Sechser! Gott sei Dank hatte er sich nicht zu diesem Irrsinn mit Laura hinreißen lassen. Wahrscheinlich wollten ihm die Würfel mit dem Sechserpasch ein Zeichen geben, dass er sich in Zukunft zügeln sollte. Rudolf machte einen militärischen Gruß. Zu Befehl! Dreimal die Sechs? Wer war das gleich? Richtig, Carla! Da hatte er eine lange, anstrengende Nacht vor sich.
TERZA PARTE
Resa dei conti alla veneziana
Venezianische Abrechnung
43
D ie Kapelle unter dem halbrunden hellen Baldachin des Caffè Florian spielte einen Walzer von Johann Strauß. Die späte Nachmittagssonne warf lange Schatten über die Piazza San Marco, auf der wie zu fast jeder Tageszeit reges Treiben herrschte. Große Pfützen erinnerten an die jüngste Überschwemmung. Nach einem lauten Schlag schreckten Tauben auf, flogen dicht über die Köpfe der Besucher hinweg und setzten vor dem Campanile wieder zur Landung an.
Eine gute Woche erst lag jener Tag zurück, an dem Mark die verhängnisvollen Briefe gefunden hatte. Immer wieder hatte er sie in der Zwischenzeit gelesen. Er hatte sich an seine Kindheit in England erinnert. Wie er im Atelier seines Vaters zwischen Farbtuben, Pinseln und Leinwänden gespielt hatte. Wie seine Mutter ohne allzu viel Hoffnung versucht hatte, ihm Tischmanieren beizubringen. Wie er größer geworden war und zum ersten Mal alleine zu seiner Großmutter Ottilia nach Torri del Benaco an den Gardasee fahren durfte. Wie seine Mutter zunehmend unter Stimmungsschwankungen gelitten hatte, die er aber nicht allzu ernst nahm. Wie sein Vater seinen ersten Herzinfarkt hatte. Wie er in Paris vom Selbstmord seiner Mutter erfahren hatte.
Und natürlich hatte er in den vergangenen Tagen immer wieder über Rudolf nachgedacht. Sein Halbbruder, den er seit den Briefen seiner Mutter mit anderen Augen sah, ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, beschäftigte seine Phantasie, verfolgte ihn bis in den Schlaf. Er hatte sich an Rudolfs Vater zu erinnern versucht, den ersten Mann seiner Mutter. Er war ihm nur ein einziges Mal begegnet, und da hatte er keinen unsympathischen Eindruck auf ihn gemacht. Ob er etwas von Rudolfs absonderlichen Neigungen geahnt hatte? Und warum hatte sich seine Mutter eigentlich von ihm scheiden lassen?
Mark hatte in der vergangenen Woche einige Male mit Rudolf telefoniert, hatte mit ihm über belanglose Dinge geplaudert. Dabei hatte ihm Rudolf von seinem neuen Domizil in Venedig vorgeschwärmt und ihn und Laura eingeladen. Im Caffè Florian wollten sie sich treffen und dann gemeinsam zu Rudolfs Palazzo hinübergehen.
Jetzt saßen sie hier und warteten auf Rudolf. Mark hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und sah geistesabwesend zur Torre dell’Orologio. Laura wippte mit dem Fuß im Dreivierteltakt des Walzers.
»Das hätten sich die Venezianer Anfang des 19. Jahrhunderts auch nicht träumen lassen, dass ausgerechnet vor ihrem Caffè Florian mit Hingabe Wiener Operetten gespielt werden.«
Mark nahm die Hände herunter und sah Laura fragend an.
»Na ja, immerhin war das Caffè Florian während der Zeit der österreichischen Besatzung der Treffpunkt aller Venezianer, die gegen die Österreicher opponierten.« Laura deutete auf die andere Seite der Piazza San Marco. »Die Österreicher ihrerseits hatten das gegenüberliegende Caffè Quadri in Beschlag genommen.«
»Da waren die Fronten wenigstens klar«, meinte Mark nachdenklich. »Das ist, wie ich jetzt feststellen durfte, im Leben überhaupt sehr hilfreich.«
»Du bist aber nicht leicht auf andere Gedanken zu bringen«, sagte Laura.
»Ist ja kein Wunder, oder?« Mark sah auf die Uhr. »Und pünktlich ist er auch nicht!«
»Also, wenn du so stocksteif dasitzt und ein Gesicht machst wie ein Totengräber von San Michele, wird Rudolf gleich merken, dass was im Busch ist. Dann kannst du dir dieses ganze Theater auch sparen.«
Mark lächelte. »Okay, ich schalte jetzt wieder auf locker. Kein Problem. Erzähl mir noch irgendetwas, das garantiert nichts mit Rudolf zu tun hat!«
Laura überlegte kurz. »Weißt du, wo der italienische Gruß
Ciao
herkommt? Wo er seine Wurzeln hat?«
»Da gibt’s doch eine chinesische Hunderasse, die so ähnlich heißt. Ciao-Ciao, stimmt’s?«
»So gefällst du mir schon besser. Also erstens heißen die Hunde Chow-Chow, und zweitens kommt der Gruß natürlich nicht aus China.«
»Na ja, wäre ja möglich gewesen. Eure Spaghetti jedenfalls sind eine
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