Vereist (German Edition)
hatte er sich in der vergangenen Nacht gewünscht, sie wären bei dem Absturz einfach beide gestorben? Dann wäre es wenigstens schnell vorbei gewesen. Stattdessen drohte ihnen nun ein langer, qualvoller Todeskampf. Finden würde sie hier niemand. Sie waren auf eigene Faust losgeflogen und vermutlich schon vor langer Zeit vom Radar verschwunden. Im Tower von Springton wunderte man sich wahrscheinlich, warum sie nicht zurückgekehrt waren. Aber an wen sollten die sich wenden? Selbst wenn jemand sie vermisste, wusste kein Mensch, wo er nach ihnen suchen sollte.
Liam hatte keine Tränen mehr. Die hatte er alle in der letzten Nacht stumm vergossen, als er geglaubt hatte, sein Bruder würde nie wieder aufwachen. Falls er aus diesem Schlamassel noch einmal herauskam, würde er Brynn einen Ring an den Finger stecken. Er hatte zu lange gewartet. Er wusste, dass sie nicht wirklich an die Ehe glaubte. Aber nach allem, was jetzt passiert war, musste sie einfach auf ihn hören. Sie musste ihn wieder bei sich einziehen lassen. Brynn war das, was er vom Leben wollte; sie und ihre gemeinsamen Kinder. Mit dieser Frau wollte er eine Familie gründen. Aber so, wie es aussah, würde das nie passieren.
Er vergrub die Nase im Haar seines Bruders. Tyrone atmete schwer, so als hätte er sich einen Virus eingefangen, der sich nun langsam in der Lunge festsetzte.
O Scheiße.
Liam fuhr erschrocken zusammen, weil jemand ans Fenster klopfte, und Tyrone schrie auf, weil er den Ruck schmerzhaft an den Rippen spürte.
Durch das beschlagene Glas hindurch erkannte Liam die Umrisse einer einzelnen massigen Person und stellte glücklich fest, dass er doch noch Tränen übrig hatte.
Sie waren gerettet.
Brynn wusste genau, wie ihre Hündin sich fühlte. Kiana lag mit dem Kopf auf den Pfoten an der Tür und behielt die drei übrigen Menschen fest im Blick. Als Jim und Thomas gegangen waren, hatte sie gewinselt, war ihnen erst ein Stück weit nachgelaufen und schließlich wieder umgekehrt. Sie hatte darauf gewartet, dass ihr Frauchen den anderen folgte. Irgendwie hatte der Hund gespürt, dass Jim nicht nur einen kurzen Spaziergang machte. Kiana wollte mit ihm gehen, gleichzeitig aber Brynn nicht verlassen.
Genauso ging es Brynn mit Ryan.
Sie wünschte sich von ganzem Herzen, sie könnte zusammen mit Jim und Thomas aus dieser Eishölle marschieren. Aber sie konnte Ryan nicht einfach sich selbst überlassen. War das die typische Rolle einer Frau? Immer auf die Rückkehr eines Mannes zu warten? Immer bereit zu sein, sich um die Kranken zu kümmern? Gab es dafür ein bestimmtes Gen?
Sie sah sich in dem engen Flugzeugrumpf um. Hier konnte kein Mensch aufrecht stehen, hier gab es keine Privatsphäre. Alex hatte klargemacht, dass sie auf keinen Fall ins Freie durfte. Nicht einmal zum Pinkeln konnte sie allein. Ein Anflug von Klaustrophobie brachte ihren Nacken zum Prickeln. Wenn sie Glück hatten, würden sie nur noch zwei, drei Nächte in dem Flugzeug verbringen.
Vor Jims und Thomas’ Aufbruch hatten sie die Piloten und den Marshal begraben.
Als sie den toten Marshal in das Loch gelegt hatten, hatte Brynn auf Alex’ Gesicht geachtet. Er hatte sich keine Gefühlsregung anmerken lassen. Sie hatte versucht, ihn dazu zu bringen, über den Agenten zu sprechen. Aber er hatte nur den Kopf geschüttelt.
»Jetzt nicht.«
Und später? Würde er da reden?
Zwischen den drei Zurückgelassenen war eine seltsame Steifheit entstanden. Deshalb war Brynn dankbar für das Kartenspiel in ihrem Rucksack. Eigentlich war es ein unnötiger Luxus, und sie hatte es schon oft endgültig aussortieren und zu Hause lassen wollen. Sie hatten gepokert und um Tannennadeln gespielt, die Alex nach einigem Zögern von draußen hereingeholt hatte. Brynn hatte ihm von der Tür am Frachtbereich aus mit Ryans Pistole Deckung geben müssen, während er zu den Bäumen in der Nähe gerannt war. Das Flugzeug war wie eine Höhle. Alle paar Stunden ging Alex hinaus, um sicherzustellen, dass die wachsenden Schneeberge nicht die Tür blockierten. Jedes Mal gab Brynn ihm Deckung.
»Glaubst du, er ist noch hier?«
Sie warteten darauf, dass Ryan seinen Einsatz machte. Alex hatte ihnen von der Botschaft an der Decke des Cockpits erzählt. Er wusste nicht, wann sie geschrieben worden war, und weder Brynn noch Ryan erinnerten sich daran, ob sie bei der Inspektion des Cockpits am Vortag an die Decke geschaut hatten.
»Die Nachricht könnte alt sein«, hatte Brynn gesagt.
»Oder ganz frisch«,
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