Vereist (German Edition)
hatte kein labiler Typ gestanden, sondern ein entschlossener. Ein Kerl, der seine fünf Sinne beieinander hatte. Es fiel ihm schwer, in dem resoluten Soldaten, mit dem er gesprochen hatte, den psychisch zerrütteten Typen zu sehen, als den Whittenhall ihn darstellte. Aus irgendeinem Grund mochte Patrick Whittenhall nicht. Der U.S. Marshal wirkte zwielichtig, aufgeblasen und arrogant. Vielleicht war das der Grund, weshalb Patricks Einschätzung von Kinton eher wohlwollend ausfiel.
Aber normalerweise trog ihn sein Gefühl nicht. Normalerweise.
»Sie brauchen Unterstützung aus der Luft. Sie werden nicht durch irgendeinen glücklichen Zufall mitten im Wald über das Flugzeugwrack stolpern. Die suchen dort draußen nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen«, beharrte Liam.
»Vielleicht gibt es morgen mal ein Zeitfenster mit etwas besserem Wetter.«
»Morgen?« Liam trat einen Stein beiseite und bespritzte dabei Patricks Stiefel mit Schlamm. Patrick biss sich auf die Zunge und sagte nichts weiter, denn Liam war ein guter Pilot, der dem Madison County schon manchen Dienst erwiesen hatte. Und er war mit Brynn zusammen. Trotzdem bedeutete das nicht, dass er nun Liams Hand halten musste, weil er sich Sorgen um seine Freundin machte.
»Hör auf, dir wegen Brynn so viel Stress zu machen und trau ihr ein bisschen mehr zu. Sie ist hart im Nehmen und nicht auf den Kopf gefallen.«
Liam sah stirnrunzelnd beiseite.
»Als sie sich letztes Jahr bei dem Felssturz das Schlüsselbein gebrochen hat, hat sie die Zähne zusammengebissen und den Sucheinsatz zu Ende gebracht, obwohl sie den Arm nicht mehr bewegen konnte. Sie kann ganz gut auf sich selbst aufpassen.«
Patrick beschloss, den filmreifen Wutanfall nicht zu erwähnen, den Liam hingelegt hatte, als er seine Freundin mit dem Arm in der Schlinge im Krankenhaus vorgefunden hatte. Liams zusammengepresste Lippen deuteten darauf hin, dass er selbst sich noch gut daran erinnerte.
»Heute lässt dich keiner mehr fliegen. Das weiß du. Also versuch nicht, es mir in die Schuhe zu schieben. Deine eigene Einheit würde den Start verhindern. Außerdem ist es schon fast dunkel.«
Liam starrte schweigend auf den Anfang des Wanderpfades. So als erwartete er, dass das Team jeden Augenblick aus dem Wald stapfen könnte. Dann murmelte er plötzlich etwas vor sich hin.
»Wie bitte?« Patrick beugte sich zu dem Piloten. Liams rebellischer Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht.
»Mit einem Air-Force-Vogel gehe ich heute nicht mehr in die Luft.«
»Genau.« Patrick musterte den Mann. »Komm bloß nicht auf dumme Ideen.«
»Ich muss los.« Liam machte auf dem Absatz kehrt und joggte zu seinem Truck, bevor Patrick noch etwas sagen konnte.
Verdammt
. Was hatte Liam vor? Patrick wiederholte stumm Liams Worte.
Nicht mit einem Air-Force-Vogel
. Liam kannte doch sicher keinen Zivilpiloten, der verrückt genug war, bei diesem Wetter zu fliegen. Das wäre ein Selbstmordkommando gewesen. Patrick ging im Kopf die Liste aller Piloten der Gegend durch, die eigene Helikopter besaßen und hielt plötzlich die Luft an.
»Ach du Scheiße.« Er kannte tatsächlich einen Piloten, der vor einem solchen Stunt nicht zurückschrecken würde. Liams älterer Bruder Tyrone besaß einen Hubschrauber.
Patrick wollte Liam hinterherrufen, doch sein Truck war bereits weg.
Ein Blick in den dunklen Himmel beruhigte den Sheriff. Liam würde heute Nacht nirgendwo mehr hinfliegen. Die Sorgen wegen des Piloten konnte er sich bis morgen aufheben. Patricks Uhr piepste leise. Als er sah, wie spät es war, zischte er einen Fluch. Nur noch zehn Minuten bis zur Abendpressekonferenz. Er verbannte Brynns Freund aus seinem Kopf und überlegte sich, welche nichtssagenden Fakten er den Aasgeiern mit den Mikrofonen zum Fraß vorwerfen konnte.
Der Vergleich ließ ihn zusammenzucken. Aasgeier kreisten über Todgeweihten.
Alex’ erste Nacht im Freien bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt war vorüber.
Gott sei Dank.
Mit gesenktem Kopf stapfte er voran. Über Nacht waren etwa fünfzehn Zentimeter Neuschnee gefallen, und irgendwann hatte er geschlafen wie ein Bär. Aber nur, weil er gegen Mitternacht eine größere Dosis Benadryl aus Ryans Rucksack gemopst und geschluckt hatte. Das Zeug half nicht nur gegen Allergien –es machte auch schläfrig. Vielleicht hatte er ein bisschen zu viel davon genommen, denn Thomas hatte ihn am Morgen energisch wachrütteln müssen.
Das Benadryl war Alex’ letzte Rettung gewesen. Seine beiden
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