Vereister Sommer
hatte:
Wendelgard.
Auch dachte sie sich, dass ihr wirklicher Name bestimmt viel zu schwer auszusprechen sei für ihn, den fünfundzwanzigjährigen Leutnant aus Leningrad, wie er ihr erzählt hatte. Die Deutschen selbst kamen ja kaum damit zurecht, immer wieder verballhornten sie ihn. Dass ihre Mutter sich dafür entschieden hatte, verstand sie bis heute nicht. Zwar hatte die ihr erzählt, warum, aber es |50| wurde dadurch nicht plausibler, blieb irgendwie verrückt: Einer Tante, Lina aus Stettin, die zur selben Zeit schwanger gewesen war wie ihre Mutter, aber ihr Kind, gleichfalls ein Mädchen, etwas eher bekam, war von der Hebamme vorgeschlagen worden, falls sie es
Wendelgard
nennen würde, wäre sie bereit, Taufpatin zu werden. Der Tante klang der Name scheußlich, und die Tochter, die sie gebar, hieß mit dem ersten Schrei, den sie ausstieß, Margot. Ihre Mutter jedoch empfand den in Stettin verschmähten Namen als wunderbar und geheimnisvoll, als etwas ganz Besonderes, und damit war die Sache entschieden. Auch war ihr Vater von Kindheit an
Peter
gerufen worden, obwohl er mit Vornamen
Willi
hieß. Aber er ähnelte wiederum so sehr seinem Vater, der ebenfalls zu früh gestorben war, dass
Willi
offenbar wie eine falsche Etikettierung wirkte: Der Sohn des Fischers Peter Schacht aus Fährdorf auf der Insel Poel war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, da passierte das Vertauschen der Namen ganz von selbst, und erst die Lebensspannen beider Peter zusammen ergaben das gesegnete Alter, in dem sie nun gemeinsam ruhten für alle Ewigkeit: der alte und der junge Schacht, der doppelte Peter.
Außerdem hieß auch ihre Lieblingspuppe Christa. Aber das kostbare Sonneberger Schildkrötspielzeug, ein Geschenk von Großmutter Wanda aus Stettin, war ebenfalls nicht mehr bei ihr, eingetauscht in der harten Nachkriegszeit gegen Lebensmittel. Ja, wie gerne sie es gehört hatte, wenn Wolodja sie so rief und sie wie im Karussell um sich drehte! So sehr, dass sie ihn eben deshalb neckte, mit Absicht warten ließ, nicht lange, aber lange genug, damit er ungeduldig wurde, vorbeilaufende Katzen und Hunde mit Fußtritten in die Luft erschreckte oder einfach
»Verfluchte Faschisten!«
rief. Bis sie kam und er vor Glück jeden Fluch vergaß, der ihm noch eben so leicht über die Lippen gekommen war. Sie waren verliebt, ganz normale Verliebte.
|51| Aber ihr erster gemeinsamer Sommer war mitten im August schon zu Ende gewesen: vereist, über Nacht. Einen nächsten würde es nicht mehr geben, nie. Ihre Zeit war abgelaufen. Eine kalte eiserne Maschinerie hatte sie ergriffen und ließ sie nun nicht mehr los; ein Räderwerk, in das schon Millionen andere Menschen geraten und dabei zermahlen worden waren. Was würde werden, wo würde es mit ihnen enden? Ihre größte Furcht war, im Anschluss an das Urteil nach Russland deportiert zu werden und das Kind, mit dem sie schwanger war, dort zur Welt bringen und für immer hergeben zu müssen, des russischen Vaters wegen. Mit Wolodja zusammen wäre sie sogar nach Russland gegangen, aber selbst diese Möglichkeit war ihnen strikt verweigert worden, trotz aller Propaganda seitens der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, die in jeder Stadt auf Plakaten zu lesen, in politischen Reden immer wieder zu hören war. Schon das Ansinnen allein hatte die Situation für sie beide bedrohlich werden lassen, und nun hatte sich die in der Folge davon naheliegendste Idee, einfach eine andere Himmelsrichtung für die gemeinsame Zukunft einzuschlagen, als die katastrophalste von allen möglichen erwiesen und sie vor ein Gericht gebracht, das nicht Recht sprach, sondern Macht exekutierte: ein sowjetisches Militärtribunal.
19. November 1950
Ihr aberwitziges Lachen war verklungen, die Soldaten hatten sich wieder beruhigt, die Uniformierten im Verhandlungssaal von alldem nichts mitkommen. Sie setzte sich auf den Stuhl, den man ihr zuwies. Er stand in der Mitte des Raumes, frontal zur Richterbank, auf der die Mitglieder des Militärtribunals Platz nahmen. Die Wand im Rücken der Richter war drapiert mit einer großen roten Fahne, darauf Hammer und Sichel, und einem kaum kleineren Stalin-Bild. Rechts von ihr befand sich ein Tisch, an dem der Protokollant auf den Beginn der |52| Verhandlung wartete, links stand der Stuhl für den Dolmetscher bereit.
Der Prozess begann mit der Verlesung und Bestätigung ihrer persönlichen Daten durch den Vorsitzenden des Militärtribunals, einen Obersten der Militärjustiz namens
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