Vereister Sommer
Suchanow. Ihm zur Seite saßen, als Schöffen, die Kapitäne Besrutschko und Malenowski. Suchanow war aber nicht nur Richter, er fungierte auch als Ankläger. Einen Verteidiger gab es nicht. Sie war vollkommen auf sich gestellt. Eine der ersten Fragen zielte darauf ab, ob sie Mitglied der faschistischen Partei gewesen sei? »Nur im BDM«, gab sie zur Antwort. »Und heute«, fuhr der Vorsitzende fort, »sind Sie heute in der Partei oder der FDJ?« Sie schüttelte den Kopf, sagte nein. »Warum nicht?«, fragte der Vorsitzende. »Ich wollte nicht noch einmal enttäuscht werden«, gab sie zur Antwort. Mit der nächsten Frage kam der Oberst der Sache, um die es in Wirklichkeit ging, schon näher. Scheinheilig spielte er darauf an, dass sie ja schon einmal einen russischen Mann gehabt hätte, warum also zwei russische Männer? Die Frage war unverschämt, und mit ihrer Antwort ließ sie Suchanow spüren, dass sie sie auch als unverschämt empfand: »Dann hätten Sie mir den ersten nicht wegnehmen dürfen! Und haben Sie im Leben nur eine Frau gehabt?« Ihre selbstbewusste Reaktion führte dazu, dass die Mitglieder des Tribunals die Sitzung erst einmal unterbrachen, den Verhandlungssaal verließen und sich zur Beratung zurückzogen.
In diesem Moment sah sie ihn wieder vor sich, seine blonden Haare und blauen Augen, das ungestüme, kampfeslustige Jungengesicht:
Jurij,
wo bloß mochte er sein? War er tatsächlich nach Sibirien gekommen, dorthin, wo man vielleicht auch sie hinschicken würde, was
Gott
verhüten mochte, sie glaubte fest daran, dass nur er ihr noch helfen könne?! Über zwei Jahre war es her, 1947 im November, dass sie sich auf dem Weihnachtsmarkt in Wismar näherkamen, gesehen in der Stadt hatten sie sich schon vorher, bei der Fahrt auf der Berg-und-Tal-Bahn |53| und nicht, was viel wahrscheinlicher gewesen wäre, auf den prächtig bemalten Holzpferden und -kutschen von Hannes Seelers Karussell, dessen Tochter Finchen, ihre Freundin, sie immer wieder einmal mit Freikarten versorgte. Auch er, der temperamentvolle, um keinen Wodka, keine Rauferei verlegene einundzwanzigjährige Schiffsmaschinist aus Archangelsk, Sohn eines hohen Regierungsfunktionärs aus der Stadt am Weißen Meer, kurz unter dem Polarkreis – dessen Schiff, die »Petrodvoretz« aus Odessa, seit dem 10. August 1947 in Wismar zur Reparatur vor Anker lag, ein Reparationsauftrag der SMAD mit der Nummer R 50/704098 –, auch er war in die Mühlen der Justiz seines Landes geraten. Im Restaurant »Zur Kogge«, der berüchtigten Seemannskneipe der Stadt, in der Bier und Schnaps in Strömen flossen und Massenschlägereien an der Tagesordnung waren, hatte er, der die politischen Verhältnisse in seiner Heimat geradezu verachtete, weil er sie aus der Perspektive des Lebens einer Familie der privilegierten Machthaber kannte, den Mund wieder einmal zu weit aufgemacht, war denunziert, dann arretiert worden. Doch war es ihm gelungen, kurz vor dem Rücktransport nach Russland die Wache zu bestechen und zu ihr zu kommen, um ihr ein Bündel Geldscheine zuzustecken, zweitausend Mark, für das Kind, das sie erwartete. Von ihm. Ihre Tochter, die dann am 28. Oktober 1948 zur Welt kam und ihrem Vater niemals begegnen sollte. Doch stolz, wie sie war, nahm sie das Geld, ein Vermögen, nicht an, sosehr Jurij sie auch darum bat, ja, geradezu anflehte. Er verstand ihre Haltung nicht, bis zur letzten Minute versuchte er, auf sie einzureden. Aber sie blieb stur. Bedrückt verließ er sie und kehrte in den Arrest zurück, um die bestochenen Wachen nicht zu gefährden. Warum sie das Geld nicht genommen hatte? Es hätte zwar schlagartig ihr Leben erleichtert, die Sorge um die unmittelbare Zukunft verringert, aber ihr auch das Gefühl bereitet, bezahlt worden zu sein für die Zeit der Gemeinsamkeit. Alles Schöne zwischen ihnen wäre damit für sie ins Unreine gewendet worden, ins |54| Hässliche. Es ging einfach nicht. Sein Plan, mit ihr nach Amerika zu fliehen, die Dollars, die er sich dafür besorgt und zur Seite gelegt hatte, das alles zerstob mit dieser letzten Begegnung wie der Schaum auf den Wellen des Meeres vor den Toren und im Hafen der Stadt, wenn starker Wind über sie hinwegfuhr; einige Male hatten sie es bei gemeinsamen Gängen nahe der Kaimauer beobachtet und sich am Spiel der Natur erfreut. Von November 1947 bis Februar 1948 hatte die stürmische Beziehung gedauert, doch in diesen wenigen Monaten war es ihr gelungen, seine anarchischen Neigungen so sehr zu
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