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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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zügeln, dass Freunde und Kollegen von der »Petro« sie manchmal fragten, was sie denn bloß mit ihm gemacht hätte, so zahm sei er geworden, sie würden ihn kaum noch sehen, und wenn, dann noch weniger wiedererkennen. Aber sie hatte nichts anderes gemacht, als da zu sein für ihn, nur da zu sein, mit ihrem Selbstbewusstsein und dem darin wurzelnden Willen, sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Ein doppeltes Himmelsgeschenk, von dem sie zu jenem Zeitpunkt absolut nicht ahnte, wie nötig sie es noch haben würde.
    Es war ihre Mutter, die den glimpflichen Ausgang dieser ersten leidenschaftlichen Affäre ihrer Tochter zum Anlass genommen hatte, sie eindringlich vor der zweiten zu warnen. Sie beschwor sie regelrecht, als Wladimir auftauchte, die Finger davon zu lassen, es sei mehr als gefährlich, Bindungen dieser Art einzugehen, in diesen Zeiten, unter diesen Verhältnissen. Es sei nur dumm; Liebe hin, Liebe her. Sie hatte zwar nichts dagegen, dass auch der neue Freund ihrer Tochter kein Deutscher und sogar Offizier der Besatzungsarmee war. Aber als lebenserprobter Berlinerin, die dort nicht nur das Ende des ersten großen Krieges überstanden hatte, sondern auch das Elend der Inflation – auch dem Terror der »kommunistischen Revolutionssoldateska« von 1918, so ging ihre Rede, die sie zwei Mal in lebensbedrohliche Situationen verwickelt hatte, war sie mit Bravour und Kaltblütigkeit entgegengetreten, einmal |55| wären sie und ihre Mutter vor einer Straßensperre fast erschossen worden –, fehlte es ihr inzwischen an jeder romantischen Naivität beim Blick auf Welt und Wirklichkeit, ohne jedoch darüber humorlos geworden zu sein, vielleicht nur sarkastischer, als sie ohnehin schon immer gewesen war. Dass sie sich einige Jahre nach dem 30. Januar 1933 in einem persönlichen Schreiben an Adolf Hitler über den rachsüchtigen Umgang der NS-Stadtverwaltung von Wismar unter Oberbürgermeister Pleuger mit ihrem Mann, dem einstigen Mitglied der kommunistischen Seeleutegewerkschaft, beschwert hatte, darüber, dass er noch 1937 arbeitslos war und mitsamt Frau und vier Kindern in einem materiellen Elend steckte, das jeder Beschreibung spottete, auch das gehörte in diese Linie, wie die Tatsache, dass sie nichts zurückgenommen hatte von ihrer Beschwerde, selbst als man ihr im Rat der Stadt mit Einweisung ins KL drohte. Unerschrocken gab sie zurück, mit ihren Kindern so lange im Rathaus sitzen zu bleiben, bis der Rachefeldzug gegen ihre Familie beendet, Arbeit und ausreichend Essen wieder zu ihrem Alltag gehören würden, und sie gewann die Kraftprobe. Ihr Mann erhielt Arbeit bei Dornier, ihre Kinder bekamen Kleidung und Spielzeug, die Familie Lebensmittel, Heizmaterial, einen Tannenbaum und eine prächtige Gans, das Weihnachtsfest stand bevor. Den Weihnachtsmann spielen durfte die NS-Volkswohlfahrt. Es verführte sie dennoch nicht, aus falscher Dankbarkeit der Partei des Führers oder einer ihrer Organisationen beizutreten. Nie sollte sie zudem vergessen, wie sehr es sie wenig später erschüttert hatte, den letzten Gang des jüdischen Arztes Liebenthal 1938 durch die Stadt mitansehen zu müssen, wie viele andere nur vom Bürgersteig aus, die dem Toten, der so oft ohne Honorar geholfen hatte, und trotz des Hasses, den die Partei über Juden ausschüttete, so, wenn auch eher verstohlen und stumm, die letzte Ehre gaben und damit dem Sohn des Arztes, der einsam hinter dem Sarg seines Vaters auf dem dunklen Katafalk durch die Straßen ging, von der überschweren Last, die ihn sichtlich |56| niederdrückte, etwas abnahmen. Lag am Tag der Beerdigung nur ein Kranz auf dem Grab, der des Sohnes, so waren es am nächsten Tag viele. Auch sie hatte einen Blumenstrauß dazugetan. Auch ihrer Familie hatte Liebenthal selbstlos geholfen. Nur einmal drohte sie einen solchen falschen Schritt ihrem eigenen Mann an, der es nicht lassen konnte, auf konspirativen Wegen illegales kommunistisches Propagandamaterial ins Haus zu bringen. Noch jedes Mal riss sie es ihm, zog er es unter der Joppe hervor, sofort aus der Hand und verbrannte es umgehend im Ofen. Aber erst als sie ihm mit erregter Stimme unmissverständlich klarmachte, wenn er nicht aufhöre damit, würde sie, aus Schutz für sich und die Kinder, um Aufnahme in die NS-Frauenschaft ersuchen, begriff er nicht nur den Ernst der Lage, sondern auch ihre Entschlossenheit, und ließ fortan die hochgefährlichen Untergrundspielchen. Zumal sie ihm schon vor der Machtergreifung

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