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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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lassen, in seinem und ihrer aller Interesse, es sei Last genug, die Tochter für sie durchzubringen, sie ergriff nun, resolut wie sie war, energisch die Initiative und holte den Jungen kurzentschlossen ab, brachte ihn nach Hause zurück, zu Mutter, Schwester und Großmutter, zurück für immer. Es war hart, vor allem für die, die ihn ziehen lassen mussten: Ihr Ein und Alles, der immer strahlende Liebling war er für sie gewesen. Nun blieben ihnen von ihm nur noch Bilder, Photographien, die sein Strahlen zeigten und hinter seinem Strahlen das Strahlen der Eltern, die lediglich seine Pflegeeltern gewesen waren, was man den Bildern nicht ansah. Es war ihm gutgegangen bei ihnen, bei dem Schweißer der Matthias-Thesen-Werft, Horst Koch, einem charmanten, melancholischen Mann, der in seiner Freizeit oft in einer kleinen Band am Schlagzeug saß, und seiner Ehefrau Margarete, die nur Grete gerufen wurde. Seine Mutter und sie hatten sich kurz nach dem Krieg kennengelernt, als Reinigungskräfte in den Hallen der Wismarer Waggonfabrik, als es andere Arbeit nicht gab und man froh war, wenigstens diese zu haben. In ihren Briefen aus dem Gefängnis hatte sie den beiden oft für ihre Hilfe gedankt, besonders glücklich, nachdem sie im September 1953 endlich Bilder von den Kindern in den Händen hielt:
     
    Meine geliebte, gute Mutti und alle! Womit soll ich anfangen, ich hab’ soviel zu schreiben. Ich bin ja so glücklich, daß ich endlich mal Bilder gesehen habe. Der Monat hat schon so gut für mich begonnen. Kätes Sonderbrief am 1., die Pakete am 2. Den nächsten Tag kam Dein Brief. Für alles recht, recht herzlichen Dank. Auch Frieda für die Schuhe. War sehr überrascht und erfreut. Na, dann kam mein Geburtstag, der auch sehr viele Freuden mit sich brachte. Und dann kam am 11. die Überraschung. Alle Frauen bekamen am 11. Bilder. Ich hatte ja keine hier und war recht niedergeschlagen. Am Abend brachte man mir dann die Bilder. Ich habe aufgeschrien, so erschrocken war ich. Und dann habe ich
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geweint vor Freude. Mutti, meine Spatzen konnte ich sehen. Und gross sind die geworden. Ach, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie mir zumute war. Meine Dorle, mein Blondengelchen und mein Bub; scheint ein kleiner Frechmops zu sein. Allgemeine Meinung über Dorle: Kluge, aber traurige Augen, sanft und lieb; große Ähnlichkeit mit mir. Und Ulli ist groß, stramm und keck, stellte man fest. Jedenfalls bin ich glücklich über meine Beiden, und sie machen Dir gewiß auch viel Freude, ja? Du bist auch gut getroffen auf beiden Bildern, nur Deine Augen und der Zug um den Mund haben mich traurig gemacht. Aber glaube mir, daß ich schon 100fach gebüßt habe. Käte und Fieti: auch nett, und das Susilein reißt ihr Mäulchen wie ein Vogel auf. 3 Tage durfte ich die Bilder behalten. Vier Stück lasse ich nach Hause schicken, dafür darfst Du mir 2 neue schicken. Bitte eins von Dir mit den Kindern und Kätes Hochzeitsbild. – Wir haben hier unterdes viele Veranstaltungen gehabt. Kino, Konzerte, Theater. Wenigstens für Stunden andere Gedanken. Letzten Sonntag war Kirche mit Abendmahl. Ich mußte viel an mein Blondengelchen denken, ob sie auch wohl gerade in der Kirche ist. Nun ist der Bogen voll. Mutti, vielleicht geht unser aller Wunsch in Erfüllung, daß ich zu Dorles Geburtstag zu Hause bin. Nun an alle, alle recht herzliche Grüße und den Kindern Küßchen von Mama und Eurer Wendelgard. Hoffentlich endet der Monat gut!
     
    Am Abend, als der Junge endlich zurück war, brachte sie ihn und die Tochter ins Bett, zuvor hatte sie ihnen im Wohnzimmer mit Kasperpuppen ein kleines Stück vorgespielt. Und als wäre es schon immer so gewesen, sagte er, wie seine Schwester auch: »Gute Nacht, Mama«, legte seine Arme um ihren Hals, gab ihr ein Küsschen auf die Wange und schlief bald darauf ein, als hätte er nie in einem anderen Kinderbett Ruhe gefunden. Als sie im Schlafzimmer das Licht gelöscht hatte und ins Wohnzimmer zurückkam, war sie versucht, die Mutter an jenes Gespräch vor Jahren im Gefängnis zu erinnern und an ihre Antwort auf den Vorschlag, den Jungen adoptieren zu lassen: |83| »Hättest du einen von uns weggegeben?« Schon damals hatte die Mutter, nach kurzem Verstummen, den Kopf geschüttelt, und nun hatte sie bewiesen, dass es nicht nur eine belanglose Geste gewesen war, sondern heiliger Ernst: Man gab in dieser Familie seine Kinder nicht weg, so einfach war das. Mochte die Not auch noch so groß sein. Nein, sie musste darauf

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