Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
Vom Netzwerk:
zwischen 1938 und 1953, griff auch in Deutschland, wen sie kriegen konnte, und wen sie ergriff, den ließ sie nicht mehr los. So hatten sich zwei Wismarer Mädchen, die sich vor ihrer Odyssee durch die Lager und Gefängnisse der Besatzungsmacht und ihrer deutschen Beauftragten nur hin und wieder einmal |79| flüchtig begegnet waren, endlich näher kennengelernt, mehr voneinander erfahren, als zuvor notwendig gewesen war: In jener anderen Welt, die es gleichzeitig gab und in der man verschwand, als gäbe es einen nicht mehr, und wenn man sie wieder verließ, auftauchte aus ihr, wie Überlebende einer verschollenen Expedition in unerforschten Gebieten, gehörte man fortan zu den Wissenden; dieses Wissen versperrte einem jedoch den Mund, und das sollte es auch. Nein, sie würde nicht nach Annemarie fragen, sie würde auch nicht in das Haus gehen, das sie gerade hinter sich zurückließ, jedenfalls so bald nicht. Die Stadt war klein genug, die Chance deshalb groß, sich eines Tages zufällig zu begegnen: beim Einkaufen, beim Arzt, in der Kirche.
    Kurz vor dem Erreichen des Zieles aber, als sie die Papenstraße schon fast durchschritten hatten und Elsners Laden mit seinen über Eck gehenden großen Schaufenstern voller Süßigkeiten, Lebensmitteln, Waschpulver, Seifen, Schnapsflaschen und dem knallroten Feuerwehrhydranten davor in Sicht kam, hörte sie zu ihrer Überraschung, dass sie noch ein paar Schritte weiter müssten, nicht nach Hause, sondern den Petritorberg hinab, in die frisch bezogene Wohnung von Schwester und Schwager, Neue Wallstraße 6, des fehlenden Bettes in der alten wegen, ein paar Tage nur, bis eine Liegestatt auch für sie besorgt wäre. An diesem Abend erfuhr sie auch, dass man nach ihrer Festnahme Mutter und Schwester ebenfalls abgeholt hatte, zu Verhören, um herauszubekommen, ob sie sich ihnen anvertraut gehabt hätte. Zum Glück für alle hatte sie damals geschwiegen, eisern, und niemandem von ihrer Fluchtidee erzählt. Es wäre die totale Katastrophe gewesen. Eine Mitgefangene in Hoheneck, sie kam aus Berlin, hatte ihrer Mutter anvertraut, dass sie mit ihrem russischen Freund, auch er ein Offizier, auch sie von ihm schwanger, nach West-Berlin flüchten wollte. Als die Sache aufflog, verhörte man auch die Mutter. Bald stellte sich heraus, dass sie eine Mitwisserin war, aber ihre Tochter und den Vater des werdenden Enkelkindes |80| nicht denunziert hatte. Natürlich nicht. Auch sie wurde verurteilt, nach Russland deportiert, und verschwand in Sibirien. Für Jahre. Was aus dem Offizier geworden war, wusste keiner.
     
    Es dauerte tatsächlich nicht lange. Wenig später kaufte sie, für 218 Mark, die ihr Frieda Schult, des Schmiedemeisters Frau im alten Haus der Familie, geliehen hatte, eine Chaiselongue und kehrte mit ihr endgültig zurück in das vertraute Heim in der Baustraße 31, die seit 1946 zwar Rosa-Luxemburg-Straße hieß, aber daran gewöhnten sich alle im täglichen Sprachgebrauch nur schwer. Allerdings schlief dann doch nicht sie auf dem neuen Stück, das sie bei Möbel-Kanter in der Krämerstraße gefunden hatte, wo ihr Schwager, Karl-Friedrich Mäker, in die Tischlerlehre gegangen war, es war ihre Mutter, die es des Nachts bezog. Sie selbst ging mit den beiden Kindern in das winzige Zimmer nebenan, zwischen Wohnstube und Küche gelegen, mehr Raum war ohnehin nicht vorhanden, und vor dem Krieg hatten sie sogar zu sechst darin verbracht. Aber es war ihr Zuhause. Sie hatte es wieder, und die Kinder dazu. Doch noch musste sie auf den Jungen warten. Als er dann kam, an der Hand seiner Pflegemutter, fremdelte er zwar nicht, aber sie forcierte auch nichts. Er spielte, wie schon in den Jahren vor ihrer Rückkehr, mit seiner Schwester, der Cousine oder der Großmutter, und nun auch mit ihr; aber dann ging er, Abend für Abend, an der Hand seiner Pflegeeltern wieder zurück an den Ort, der ihm seit seinem vierten Lebensmonat vertraut war, bald wurde er drei. Er freute sich, wenn er am nächsten Tag Mutter, Schwester und Großmutter wiedersah, aber er weinte auch nicht, wenn er sie wieder verlassen musste. Keiner wusste, was sich im Kopf des Jungen abspielte, nur seiner Großmutter ging die unentschiedene Situation nach zwei Wochen gegen den Strich. Sie, die noch bei ihrem ersten Besuch in Hoheneck der Tochter angesichts deren Aussicht, ein Jahrzehnt hinter Gittern verbringen zu müssen, zu bedenken gab, ob es nicht doch vernünftiger sei, den |81| Jungen von Grete und Horst adoptieren zu

Weitere Kostenlose Bücher