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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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sie wusste, dass diese Papiersammlung fortan ihr unsichtbarer Begleiter sein würde. Nicht einmal Andeutungen wurden gemacht. Es hätte sie nicht gestört, sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, wofür sie sich hätte schämen müssen. Aber so war das Leben ein bisschen leichter, das neue Leben, das gerade begann und dem das alte dennoch wie ein drohender Schatten folgte, der immer wieder die Nerven strapazierte, aus Träumen Alpträume werden ließ, das Herz in bedrohliche Unruhe versetzte. Schließlich letzte Unbefangenheit durch vorletzte Wachsamkeit verstellte, und wenn es zunächst nur unbewusst geschah. Dennoch: Die Arbeit in der Schule gefiel ihr auf Anhieb. Ordnungssinn und ihr Pflichtbewusstsein, Aufgaben zügig, ja, mit der Lust an der Perfektion zu erledigen, ihre Korrektheit, schnelle Auffassungsgabe und ihr Humor, all das sorgte dafür, dass sie schon nach kurzer Zeit warm wurde mit den Kollegen, die Vorgesetzten sie schätzten, und auch hier befragte sie niemand in Richtung Vergangenheit, keine Neugierde bohrte nach, keine Provokation quälte, keine Warnung oder Anspielung machte unsicher. Natürlich war sie spätestens seit ihrer Rückkehr aus Hoheneck politisch nicht mehr naiv und konnte sich an fünf Fingern abzählen, dass die Kaderabteilung Auskunft geben würde, wenn der Staatssicherheitsdienst, der nun für sie und ihresgleichen im Verborgenen zuständig war, |86| wissen wollte, wie sie sich machte. Aber an genau diesem Punkt war sie sich sicher, sehr sicher sogar, dass die Kaderabteilung nichts zu melden hatte, was ihr neuerlich gefährlich werden könnte. Im Gegenteil. Zwar arbeitete sie nicht deshalb so vorbildlich, es war schlicht ihr Naturell, sie konnte gar nicht anders. Aber zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie nützlich diese Eigenschaften auch noch waren, und jetzt erst recht.
    Vier Monate später – drei Kollegen und sie hatten gemeinsam einen kostenlosen Platz in einem Ferienheim des FDGB erhalten – fuhr sie, mit 40 Mark Urlaubsgeld in der Tasche, von denen auch noch der Gepäcktransport bezahlt werden musste, für vierzehn Tage nach Thambach-Dietharz in Thüringen. Der Kurort lag, sie hatten sich im Büro sogleich mit einem Blick auf eine Landkarte vergewissert, hinter Arnstadt und vor Schmalkalden, wenn man von Norden kam, südlicher ging es kaum noch. Nie zuvor war sie im Gebirge gewesen, wenn sie von jenem Gebirge absah, das sie jahrelang nur aus vergitterten Fenstern heraus hatte erblicken können. War das wirklich erst ein halbes Jahr her? Der Gedanke machte sie für einen langen Moment fassungslos, so ausgeschlossen hatte jene Wirklichkeit diese. Doch nun schien die andere irreal geworden zu sein; zugleich aber wusste sie es besser, und dieses Wissen war Schmerz. Schmerz um Menschen, die dort nach wie vor litten, war Last, ob man es sich gutgehen lassen durfte, wenn andere, die man kannte, nach wie vor in einem Elend steckten, das man nur zu gut ebenfalls kannte. Wenigstens verlief die Reiseroute so, dass sie das Erzgebirge nicht berührte. Sie hätte es nur schwer verkraftet, zu viele Gesichter waren noch in der Burg, die sie nicht vergessen konnte. Sie wollte sie auch nicht vergessen.
    Die beiden männlichen Kollegen hatten ihre Ehefrauen mitgebracht; sie selber bezog mit ihrer Kollegin ein Zimmer. Es war, wie sich herausstellte, das prächtigste von allen, mit einer herrlichen Aussicht und groß genug für vier. Die zwei Wochen |87| auf dem Kamm des Thüringer Waldes, inmitten einer idyllischen Landschaft, die unerschöpflich schön zu sein schien mit ihren Wanderwegen durch endlose Wälder und abgeschiedene Täler, durch Dörfer, in denen am frühen Abend das Glockengeläut heimkehrender Kuhherden erklang, über Flüsse und Bäche, aus denen man trinken konnte, an Wasserfällen vorbei, wurden für ihre Seele zu einem Jungbrunnen. Wie lange hatte sie nicht mehr so oft und so ungezwungen gelacht? Kein Tag verging, an dem die kleine Gruppe von der Küste nicht Gründe und Anlässe fand, Blödsinn zu machen, Klamauk, Witze zu reißen. Mit ihrer Zimmernachbarin ging sie, im blauweißkarierten Sommerkleid, passend zum Tun, das sie geplant hatten, Blaubeeren pflücken, zuvor hatten sie sich im Ort eine Tüte Zucker gekauft: gezuckerte Blaubeeren, frisch gepflückt! Es gab Genüsse, die waren so einfach und überirdisch zugleich, dass sie dem Leben einen Geschmack gaben, dem keine Bitterkeit mehr gewachsen war, wenigstens für eine Zeit. Einmal wanderten sie zum

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