Vereister Sommer
nicht zurückkommen.
Die seelische Not der anderen war dafür umso größer, vor allem Margarete litt unter dem Verlust, und ihr Leiden machte sie einmal abgründig böse, in einem Gespräch, warum der Junge denn nicht doch bleiben könne, bleiben bei ihr und Horst? Nach etlichem Hin und Her, in dessen Verlauf sie ihre Freundin daran erinnerte, dass sie ihr ja schon bei deren Besuch auf Hoheneck den Wunsch nach einem endgültigen Überlassen des Jungen mit dem Satz abgeschlagen hatte: »Niemals, und wenn ich alle zehn Jahre absitzen muss!«, als überklar war, wo der Junge am Ende hingehören würde und wohin nicht, und trotz ihrer immer wieder bekräftigten Dankbarkeit den beiden gegenüber, dass sie ihn aufgenommen und sich liebevoll um ihn gekümmert hatten, verführte der Schmerz die Freundin zu der Äußerung: »Wir haben ja gar nicht damit gerechnet, dass du jemals wieder zurückkommst!« Es war ein furchtbares Bekenntnis, und es löste Tränen und verzweifelte Stummheit aus, auf beiden Seiten; zu einem endgültigen Bruch führte es dennoch nicht. Der Junge blieb, wenngleich auf andere Weise als zuvor, auch seinen Pflegeeltern erhalten. Immer wieder kamen sie vorbei, sie wohnten ja, nicht weit voneinander entfernt, in derselben Straße. Es wäre nicht nur absurd, es wäre einfach schwach gewesen, sich nicht mehr zu kennen. Der Junge hätte es ohnehin nicht verstanden. Gleichwohl machte er nie Anstalten, mit ihnen mitzugehen, wenn sie sich verabschiedeten. Es schien so, als hätte er vollkommen begriffen, nur auf Zeit ihr Kind gewesen zu sein, und nun war die Zeit mit ihnen um. Es war vorbei. Sie freute sich zwar darüber, dass er keinerlei Rückkehrwünsche |84| äußerte. Aber sie war auch verwundert. Er war zu klein, viel zu klein, diesen Schnitt bewusst zu tun; doch irgendetwas gab ihm diese Kraft zur Klarheit. Sie glaubte zu wissen, wer und was es war. Einen Monat später, wenige Tage vor seinem dritten Geburtstag, erkrankte der Junge an Scharlach und kam auf eine Isolierstation in einem Krankenhaus in Schwerin. Die furchtbare Erinnerung an den frühen Tod ihrer Schwester in dieser Stadt belastete sie zusätzlich, als sie am 9. März nachmittags zu ihm fuhr und ein Geburtstagspaket und Blumen für ihn abgab, zu sehen bekam sie ihn nur hinter einer Glasscheibe. Er winkte ihr zu, und auch hier wirkte er nicht traurig oder ängstlich. Nach seiner Rückkehr aus Schwerin und der Isolierstation erzählte er von dem Paket, den Süßigkeiten darin und dem Spielzeug. Als sie ihn fragte, was ihm denn am besten gefallen hätte von all den Geschenken, überlegte er nicht lange und sagte, am schönsten für ihn gewesen seien die Blumen, sie seien wunderschön gewesen. Wo er das wohl her hat, fragte sie sich vollkommen überrascht, denn mit solch einer Antwort hatte sie nicht gerechnet? Aber es rührte sie an, und sie fragte es sich voller Freude.
Im selben Monat erhielt sie auch eine Arbeit, über den Rat der Stadt hatte man ihr eine Anstellung als Sekretärin an der Betriebsberufsschule der Matthias-Thesen-Werft vermittelt. Es war eine Tätigkeit, die nahtlos zu ihrer Ausbildung passte, von 1943 bis 1945, in der Wismarer Triebwagen- und Waggonfabrik, hatte sie gelernt, was damals noch unter der Bezeichnung »Bürogehilfin« firmierte, es umfasste Kenntnisse in Buchführung ebenso wie für die Tätigkeit im Lohnbüro, Einkauf und Verkauf, von Stenographie und Schreibmaschine zu schweigen. Bereits am 8. März, dem Internationalen Frauentag, begann sie, und zugleich fing sie an mit einem Blumenstrauß, wie er allen Frauen in der Schule an diesem Tag überreicht wurde. Drei Tage nach ihrer Ankunft in Wismar hatte sie sich bei der Polizei gemeldet, in demselben Gebäude, von dem sie seit dem 15. August 1950 mehr wusste als die meisten |85| Besucher, die es betraten. Am 3. Februar ging sie wieder dorthin und beantragte einen neuen Personalausweis, der alte lag offenbar immer noch bei denjenigen, die sie einst verhaftet und in zermürbenden Nachtverhören wochenlang danach befragt hatten, wider besseres Wissen und so lange, bis sie eine müde, verzweifelte Sekunde lang bereit gewesen war, sich lieber erschießen zu lassen, als diesen Irrsinn noch weiter an sich erdulden zu müssen. Auf den Behörden, bei denen sie sich wieder gemeldet hatte, war man zurückhaltend, ja freundlich gewesen. Niemand erwähnte auch nur mit einem Wort, was hinter ihr lag, obwohl man Bescheid wusste, weil es in den Akten stand, von denen wiederum
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