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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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gesetzt:
Lerne, was Dir beschieden, zu tragen. / Glauben heißt auch in der Not nicht verzagen. / Nie schwindet die Sonne, nur wir sind zu klein, / um immer Zeugen des Lichts zu sein
, um ihn so schnell wie möglich verlassen zu können und das Gleis zu finden, von dem der Personenzug nach Wismar abfahren sollte. Es war fünf Minuten nach halb sechs, als er zum Stehen kam. Aber die Suche erwies sich als nicht schwierig, der Bahnhof hatte, obwohl ein Knotenpunkt, nur wenige Gleise und Bahnsteige, bald saß sie im richtigen Zug, auch er setzte sich pünktlich in Bewegung. Keine halbe Stunde Fahrt lag noch vor ihr, dann würde es soweit sein. Endlich. Sie war nun nicht mehr alleine im Abteil, aber sie blickte durch die sie umgebenden Gesichter hindurch, nicht mehr nach vorne, nicht zurück, nur die winzigen Bahnstationen, die vor ihr lagen, zwischen ihr und der Mutter, den Kindern, den Verwandten, spukten durch ihren |75| Kopf wie gespenstische Endbahnhöfe im Nirgendwo, die den Zug noch aufhalten konnten, kurz vor dem Ziel und dem Glück des Wiedersehens:
Moidentin, Petersdorf, Mecklenburg Dorf.
Doch drei Mal geschah nichts anderes, als dass der Zug nur knapp an spärlich erleuchteten Stationen hielt, die sich im Abenddunkel von Wäldern und sanft ansteigenden Endmoränenhügeln verloren, dass sogleich wieder Pfiffe ertönten und er sich erneut in Bewegung setzte und mit seinem Dampf und dem Funkenflug aus dem Schornstein der Lokomotive die Finsternis, durch die er eilte, zugleich zerteilte, bis immer schneller und schneller – obwohl der Zug die letzten Gleiskilometer langsamer fuhr und immer öfter schlingernd über Weichen polterte – ein Lichtermeer auf sie zukam, während sie sich erhoben hatte, am Fenster stand und auf die scheinbar schwankende Helle blickte: den Bahnhof ihrer Heimatstadt. Er war nicht nur von seinen eigenen Lampen erleuchtet, auch die Lichter des nahen Hafens erreichten ihn mit ihrem Schein und ließen ihn größer wirken als er tatsächlich war. Noch im Juni letzten Jahres hatte sie im Monatsbrief geschrieben, wie sehr ihr neben all ihren Lieben auch die Stadt fehle:
Lese oft in der Zeitung von Wismar; dann ist mir immer ganz komisch. Zu Hause wird wohl tüchtig gebaut. Ich glaube, ich kenne unser liebes Wismar gar nicht mehr wieder. Habe auch oft Heimweh nach unserem Strand, nach dem Wasser und einer frischen Ostseebrise. Na ja! Einmal geht alles vorüber.
     
    Oh, wie gut war es, dass es eine Schranke gab zwischen dem Bahnsteig und der Halle unter dem Tonnendach, wo alle diejenigen standen, die auf den Zug warteten, auf die Menschen, die er gebracht hatte, auf Kollegen, Freunde, Angehörige. Sie lief die letzten Meter in Richtung Schranke wie betäubt: sah alles und hörte nichts, sah ihre Lieben, aber sie konnte eine lange Sekunde nicht verstehen, was sie riefen. Sie lief nur und lief, bis sie die Schranke, die Barriere, die Sperre erreicht hatte, und dann hielt sie sich fest, nur fest, und wurde gehalten, von |76| den Händen hinter der Barriere, die hinüberflogen, sie auffingen, die Halt gaben im Zusammensacken: Es waren die Hände der Mutter, des Schwagers, des Freundes, der mit seiner Frau den Sohn gepflegt hatte, der Nichte, des Kindes: »Du bist aber schön, Mama!«, sagte das Kind in die kleine Menschengruppe hinein, in der jedem Einzelnen Tränen in den Augen standen oder über das Gesicht liefen, mit verzauberter Stimme sagte es das, als wäre ein Wunder geschehen, und es war ja auch ein Wunder, was da geschah.
    Das Wort ihrer Tochter gab ihr Kraft. Sie löste ihre verkrampften Hände von der Schranke, beugte sich über die Barriere, ergriff die fast Sechsjährige und zog sie zu sich hoch: »Bist du aber groß geworden!«, hörte sie sich sagen, und während ihr Kind ihr die Arme um den Hals schlang und seinen Kopf an den ihren schmiegte, fragte sie nach dem Sohn: »Wo ist der Junge, ist was mit ihm, ist er gesund?« »Beruhig dich, Wendelgard«, sagte Horst, der Mann ihrer Freundin, blitzschnell: »Grete ist in Bonn, sie hat Ulli dabei, wir wussten ja nicht, dass du rauskommst, und als wir es wussten, war sie schon drüben. In drei Tagen ist sie wieder zurück.« Die Auskunft beruhigte sie, und endlich verließen sie die Bahnhofshalle, liefen die breite Treppe hinab, die überging in die Unterführung Richtung Stadt, mit Ausstellungsvitrinen, die man in eine der gekachelten Seitenwände eingelassen hatte. Sie wirkten wie kleine Aquarien, aber es schwammen keine Fische darin,

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