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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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sondern zu besichtigen hinter den dicken, in Stahlrahmen gefassten Scheiben waren Auslagen verschiedener Geschäfte, auch eine Miniatureisenbahn, die durch eine Modelllandschaft raste, gehörte dazu. Ein Geldstück, durch einen Schlitz geworfen, setzte sie in Bewegung. Männer und Kinder standen am häufigsten und am längsten davor. Nichts hatte sich scheinbar verändert. Als sie das Ende der Unterführung erreicht hatten und wieder emporstiegen, tauchten sie, wie alle, die vor, hinter oder neben ihnen gingen, in einen kalten Luftstrom ein, der die Schalterhalle durchzog und von den sich |77| ständig bewegten Schwingtüren ins Freie hervorgerufen wurde. Nur wenige Schritte noch, dann lag der Bahnhof hinter ihr: die Uhr über dem Eingang zeigte, als sie ihn verließ, dass seit ihrer Ankunft keine zehn Minuten vergangen waren, es war drei Minuten vor halb sieben. Vor ihr aber lag die abendliche Stadt: Gaslaternen verbreiteten ein warmes gelbliches Licht, Autos fuhren vorbei, ein Bus, Taxilimousinen mit dem Schachbrettmusterband auf der Karosse nahmen Fahrgäste auf oder entließen sie, vom nahen Hafen her erfüllten Werkgeräusche die Luft. Tochter und Nichte an der Hand, überquerte sie gemeinsam mit Mutter, Schwager und Horst, eine scheinbar ganz normale Familie, die Straße vor dem Bahnhofsgebäude und ging auf die Getreidemühle über dem Wasserlauf »Frische Grube« zu, an dem entlang sie ins Zentrum der Stadt gehen wollten, vorbei am Schabbelthaus, an Nikolaikirche und Hafen im Rücken, an der Großen Stadtschule, durch Bademutter- und Krämerstraße hinauf bis in die Hegede hinter der Westseite des Marktes, um in die Sargmacherstraße zu kommen. Zwischen der Ruine des Archidiakonatshauses und dem ausgebrannten Chor von St. Marien hindurch würde es weitergehen, am kleinen Park des Fürstenhofes vorbei, schließlich die Papenstraße hinab, und dann um die Ecke, nach rechts, drei Schritte hinter Kaufmann Elsners Lebensmittelgeschäft mit den Reklameschildern für Maggi und Erdal an der Wand, in die Rosa-Luxemburg-Straße 31, dort lag es, zuletzt gesehen in ähnlicher, tatsächlich aber nächtlicher Dunkelheit und aus einer mit Gardinen verhängten Limousine des sowjetischen Geheimdienstes heraus: das Ziel dieser langen Reise, die drei Jahre, fünf Monate und drei Tage gedauert hatte, und dann würde die Reise vorbei sein. Aber war sie es dann wirklich? Vorbei? Der Weg in die Stadt war keine dreißig Meter weit zurückgelegt, als sie schlagartig begriff, dass diese Reise noch lange nicht alle Stationen hinter sich hatte, auch wenn sich der vor ihr liegende Abschnitt hinter den Kulissen des weitergehenden Lebens, seines Alltags, der Normalität |78| fast vollständig verbergen würde: wie hinter den Mauern des Hauses zur Rechten, mit dem großen Tor für Pferde- und Lastkraftwagen, das sie soeben passierten, als sie in die Mühlengrube einbogen, die Geräusche des Bahnhofs noch im Ohr – das Haus des Fuhrunternehmers Saß, dessen Tochter Annemarie kurz vor ihr aus Hoheneck entlassen worden war. Sie unterließ es, während sie daran vorbeigingen, ihre Mutter zu fragen, ob Annemarie sich schon bei ihr gemeldet hätte oder sie sich bei Annemaries Mutter? Annemarie, die für noch weniger Belastendes, nämlich für gar nichts, anderthalb Mal soviel Jahre Arbeitslager wie sie, nämlich 25, bekommen hatte. Ein ganzes Vierteljahrhundert Strafe sollte die gelernte Floristin, die bei ihrer Verhaftung 1949 gerade frisch verheiratet gewesen war, verbüßen; die erste Zeit davon verbrachte sie im sowjetischen Konzentrationslager Sachsenhausen, wo auch ihr Kind geboren wurde, bevor sie nach Hoheneck kam. Das schwere Verbrechen, dessentwegen man auch sie in Baracken gepfercht hatte, die noch warm gewesen waren von den Opfern der National-Sozialisten: Ihr Name in einer ungelesenen Ausgabe von »Mein Kampf«. Sie hatte das Buch gleich nach dem Krieg einem Bekannten gegeben, der es unbedingt hatte haben wollen, sonst hätte sie es in den Ofen geworfen. Hätte sie nur. Denn dieser Bekannte gehörte einer Untergrundgruppe an. Als sie aufflog, fand man bei den Hausdurchsuchungen auch das gefährliche Buch mit ihrem Namenseintrag. Es nützte ihr nichts, dass sie es nie gelesen hatte, wie es ihr auch nichts nützte, dass sie von der Existenz der Untergrundgruppe erstmals erfuhr, als man sie als eines ihrer Mitglieder verhaftete. Die Maschinerie Berijas, Stalins Mann und Minister für den täglichen Massenterror inklusive Massenmord

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