Vereister Sommer
Waldrestaurant »Steigerhaus« und entdeckten dort in der Kuchenvitrine eine sündhaft teure Ananastorte. Sie leisteten sich dennoch jeder ein Stück und Schlagsahne dazu. Ananastorte mit Schlagsahne? Zuletzt hatte sie derartige Dinge vor dem Ende des Krieges genossen, in Hoheneck fehlte für solchen Luxus sogar die Phantasie. Sie wurde für Elementareres gebraucht. Aber jetzt schmeckte sie auf Zunge und Gaumen, was an jenem Ort zu träumen nicht gelang, weil man gar nicht mehr auf die Idee kam, dass es so etwas auch noch geben könne, und es schmeckte so verführerisch gut, dass sie ihre Zimmernachbarin überredete, ein zweites Mal zusammen ins »Steigerhaus« zu gehen, noch einmal Ananastorte zu bestellen und noch einmal Schlagsahne auf die phantastischen Früchte zu tun. Natürlich dachte sie auch an die Kinder, kaufte im Ort kleine Geschenke, für Tochter und Nichte je ein Armband aus Bernsteinimitat, in eines der Glieder war eine kleine Ansicht des Ortes eingelassen, und für den Jungen ein Bilderbuch: |88| »Tautröpflein Blinke Blank’s Reise«. Es erzählte die Geschichte eines Tautropfens, der seine heimatliche Glockenblume verlässt, indem er sich einem Schmetterling anvertraut und mit ihm davonfliegt. Natürlich gerät diese Reise dramatisch, Tautröpfchen stürzt irgendwann ins Wasser, wird aber von einer Elfe gerettet und zurückgebracht auf jene bunte Sommerwiese, die es so abenteuerlustig verlassen hatte, heim in eine Gesellschaft von Blumen, Kräutern und Gräsern, der das Schicksal auch schon mal mit der Gewalt ungehobelter Wanderer entgegenkommt, die nicht darauf achten, wen und was sie niedertrampeln auf ihrem Weg durch die Natur. Wenige Wochen nach der Rückkehr erhielt sie zwei Dutzend Photographien geschenkt, die einer aus der Gruppe gemacht hatte. Als ihre Mutter sich die Bilder ansah, fragte sie die Tochter, wann sie denn auf der Reise gelacht hätte, nach ihrem Erzählen sei es doch nur lustig gewesen?! »Immerzu«, hatte sie verwundert geantwortet, »wirklich jeden Tag.« »Das beruhigt mich«, sagte die Mutter mit der ihr eigenen Lakonie, »auf den Bildern sehe ich davon nichts, jedenfalls nicht bei dir.« Jetzt sah auch sie, was ihr alleine nicht aufgefallen war: Die Bilder dieser wunderschönen Reise zeigten mehr, weil sie weniger zeigten: Wenn sie lächelte, dann verhalten, nach innen gekehrt. Schwermut lag auf ihrem Gesicht, Scheuheit. Abwesendsein inmitten photographisch dokumentierter Anwesenheit. Ein Mensch zeigte sich mit ihr, der überrascht und vorsichtig in die Welt schaut, die ihn umgibt, als sei sie nicht wirklich wahr, als ginge es jeden Moment zurück in eine andere, düstere. Gleich hinter den idyllischen Wäldern, Hecken und Häusern schien sie zu lauern. Irgendetwas Lastendes stand im Raum, was die anderen nicht wahrnahmen, nicht wahrnehmen konnten. Fast alle Bilder spiegelten diesen Widerspruch, der keiner war. Er bewies nur eines: die Kürze der Zeit, die zwischen der Reise nach Norden lag, aus dem Gefängnis in die Freiheit, im Januar, und der nach Süden, im Juli, in einen Urlaub, als ob nichts gewesen wäre. Noch im |89| Zug auf der Rückfahrt, auch hier waren Bilder von allen gemacht worden, von ihr, während sie in einer Zeitschrift las, lag ein Ernst auf ihrem Gesicht, der nicht nur der Lektüre geschuldet sein konnte, es war eine Illustrierte, vielleicht die »Freie Welt«, die über die Sowjetunion berichtete wie über das Paradies, dessen deutsche Ausläufer sie kennengelernt hatte, oder das Kreuzworträtsel eines anderen Blattes, das sie ablenkte, auch von der Menschenmasse in dem vollbesetzten Urlauberzug, die den Schaffner kaum durchkommen ließ, sie wusste es nicht mehr.
Wieder zurück in Wismar, standen weitere Festtage bevor: Die Stadt beging vom 18. bis 22. August ihr 725-jähriges Gründungsjubiläum und war dabei, sich aufs Prächtigste herauszuputzen. Am Vorabend des großen Festumzugs, der am letzten Tag der öffentlichen Feiern stattfand, ging sie mit Schwester und Schwager, es war das erste Mal seit langem, zum Schaufensterbummeln in die Stadt, die Mutter blieb zu Hause bei den Kindern. Die kleineren Privatgeschäfte wie die verstaatlichten Kaufhäuser überboten sich mit einer Fülle von ausgestellten Waren. Einige der noch selbstständigen Händler fielen aber nicht nur mit ihrem üppigen Angebot auf, auch politisch versuchten sie, sich hervorzutun, vielleicht nicht für die Kunden, mit Sicherheit für die Stadtverwaltung und die Partei, die
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