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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Jahre später, stand ihr ein weiterer bevor, und wie sie ihn kämpfte! Bereits bei ihrem ersten Besuch im Gefängnis des Staatssicherheitsdienstes in Schwerin, unter den Augen und Ohren meines Vernehmungsoffiziers und mit Sicherheit des Mikrophons einer Abhöranlage, blieb sie nicht beim Austausch genehmer Unverbindlichkeiten, wie es mir gehe und wer mir alles Grüße ausrichten lasse, über den eigenen Fall durfte man, wie schon zu ihrer Zeit, ohnehin kein Wort verlieren. Nein, mitten im scheinbaren Geplätscher belangloser Worte, schoss sie plötzlich eine Frage in den Raum, die so unerhört provokativ war, dass ich reflexhaft und ungläubig zu meinem Vernehmer blickte: Ob man mich hier schlage, fragte sie. Ich solle nur die Wahrheit sagen und keine Angst haben, falls es so sei! Der Vernehmungsoffizier glaubte, ich sah es seinen verstört blickenden Augen an, sich verhört zu haben, und als er begriffen hatte, dass er richtig gehört hatte, lief er von einer Sekunde zur anderen rot an. Doch explodierte er nicht, dafür war er nicht der Typ; er musste es aber auch nicht, konnte ich doch meine Mutter beruhigen, dass nichts dergleichen mit mir geschehen sei, man würde mir nach den |99| Vernehmungen sogar Bohnenkaffee anbieten. Nun war meine Mutter fast sprachlos, bekannte ebenso unumwunden, dass sie sich das kaum vorstellen könne, und hatte mit ihrem Zweifel recht und unrecht zugleich: Ihre Erfahrung mit einem kommunistischen Geheimdienst war eine vollkommen andere; aber zwischen der ihren und meiner lagen Jahrzehnte. Sie wiederholte zwar – nach meiner Bekräftigung, dass es tatsächlich so sei, wie ich gesagt hätte, die Zeiten hätten sich geändert –, nicht mehr ihren Verdacht auf körperliche Gewalt gegen mich und den Zweifel am gemeinsamen Kaffeetrinken im Vernehmungszimmer, aber in ihren Augen sah ich, dass Skepsis zurückblieb. Als mein Vernehmer sich später bei mir ein wenig zu beschweren versuchte über den Verdacht, den meine Mutter geäußert hatte, antwortete ich ihm kühl, dass mich seine Verwunderung wundere, er wisse doch sicherlich genauso gut wie ich, in welchen Zeiten sie inhaftiert gewesen sei und bei wem, und dass damals körperliche Gewalt, ja Folter gegen Häftlinge durchaus an der Tagesordnung gewesen seien. Danach schwieg er, und wir kamen nie wieder auf das Thema zurück.
    In den Jahren, die folgen sollten – im Februar 1974 wurde ich dann in das größte Gefängnis der Diktatur gebracht, nach Brandenburg-Görden –, hat sie nicht weniger auf mich aufgepasst, Eingaben an den Staatsratsvorsitzenden geschrieben, mit dem Landesbischof meiner mecklenburgischen Heimatkirche, Heinrich Rathke, der sich ebenfalls um meine Freilassung bemühte, intensiven Kontakt gehalten, nach jedem Besuch bei mir empfing er sie demonstrativ in seinem Schweriner Amtssitz; oder auch mit meiner Rechtsanwältin, die aber aus Resignation angesichts des hohen Urteils gegen mich, das zu mildern ihr trotz waghalsiger Plädoyers nicht gelungen war, bald darauf ihre Anwaltstätigkeit aufgab. Schließlich hielt sie Verbindung über all die Jahre zu meinen engsten Freunden im Westen, die ebenfalls darum bemüht waren, dass ich vorzeitig rauskam – was eben auch bedeutete, dass sie ihren |100| Kampf um mich und meine Freiheit zum Glück nicht alleine kämpfen musste. Zwei Pastoren aus Wismar, Hans Joachim Huhnke und Anna Muche, nahmen mich in ihren Gottesdiensten gar in die öffentliche Fürbitte auf, sprachen Sonntag für Sonntag von »unserem gefangenen Bruder Ulrich Schacht« und baten den Himmel, mir zu helfen. Aber dann brach das eigentliche Unglück über sie herein, über uns: Als ob es nicht genug gewesen wäre, ein Kind für Jahre im Gefängnis verschwinden zu sehen, überfiel das andere Kind, das sie hatte, meine ältere Schwester, eine tödliche Krankheit – sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als der Krebs ausbrach; oder schlimmer noch: als man die zuvor offenbar übersehene Geschwulst viel zu spät entdeckte. Zuerst verheimlichte mir meine Mutter die furchtbare Wahrheit, wollte sie doch nicht bei den vierteljährlich gestatteten Besuchen für jeweils eine halbe Stunde mich auch noch damit belasten, aber dann, Anfang 1975, brach es doch aus ihr heraus, bei einem der Sprecher, die wir, vor und hinter einer Glasscheibe sitzend, absolvieren mussten, und nun, als Letzter in unserer Familie, erfuhr auch ich das Schreckliche. Doch mir kamen keine Tränen, ich war nur eine entsetzlich lange Sekunde stumm, während

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