Vereister Sommer
sie auf dem Wagen |94| mitnehmen zu dürfen, die meisten von ihnen, der Zufall wollte es so, trugen ebenfalls Kostüme jener Epoche zur Schau. Kurzentschlossen hob die Großmutter das Enkelkind hoch, die Schauspieler griffen zu, und dann stand es strahlend auf dem Wagen zwischen den Mimen, aber die Großmutter verlor es keine Sekunde aus den Augen, ging die ganze Zeit neben dem Wagen her, bis der Endpunkt erreicht war. Noch am Abend schwärmte das Kind von der Fahrt auf dem Theaterwagen durch die Straßen Wismars.
4. April 1999
Wenn ich es allerdings ganz genau nehme, Slavik, hätten wir diesen Weg, den wir gerade unserem Vater entgegengehen, schon viele Jahre eher zurücklegen können. Es war nicht nur er, der abblockte. Auch meine Mutter versuchte mir, als klar wurde, dass Wladimir Jegorowitsch noch lebte, abzuringen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, die Reise hierher nicht anzutreten, die Suche ausgerechnet in dem Moment zu beenden, an dem endlich Aussicht bestand, sie erfolgreich abschließen zu können. Aber während unser Vater sich an das Entscheidende offenbar einfach nicht mehr erinnern wollte, jedenfalls denen gegenüber, die ihn im Militärarchiv danach befragten, ich weiß es aus der Korrespondenz mit Konstantin Issakow, dem du, wie mir auch, vor wenigen Minuten erstmals die Hand gegeben hast, erinnerte sich meine Mutter nur zu gut. Was er scheinbar für immer hinter sich gelassen hatte, hatte sie, wenn es darauf ankam, immer noch als dramatisches Ereignis vor Augen, bis heute, bis in diese Stunde: nicht so sehr den Schrecken am eigenen Leib, unauslöschlich gespeichert im Kopf, im Hirn, in den Nervenzellen; ein ganz anderer Schrecken beherrschte sie und beherrscht sie bis heute, der dennoch etwas mit der unauflöslichen Einheit von Körper und Seele zu tun hat: mit der innigsten Form zwischenmenschlicher Bindung, die es überhaupt gibt, der zwischen Mutter |95| und Kind, als es nämlich immer wahrscheinlicher wurde, dass ich nach Moskau fliegen könnte: der kalte zeitweilige Raub ihres Kindes, das ich bin. Damals, vor achtundvierzig Jahren, als ihr und den beiden gefangenen Mit-Müttern im Krankenrevier der Gefängnisburg Hoheneck, von einem Tag auf den anderen, angekündigt wurde, dass ihnen die Kinder entzogen werden würden, wohin auch immer verbracht, und sie wie eine Wahnsinnige dagegen anschrie, als es soweit war, weil sie mich den Polizisten zum Abtransport übergeben musste und ich ihr fast aus den Händen glitt dabei, wenn nicht die Hebamme reaktionsschnell gewesen wäre und mich aufgefangen hätte, bevor ich, das drei Monate alte Baby, auf dem Zellenboden lag. Die beiden anderen Frauen, denen es ebenso erging, weinten nur, stumm vor Entsetzen, vor sich hin, unfähig zu schreien, sich dagegen aufzulehnen; meine Mutter aber, sie konnte nicht anders, kämpfte: mit Tränen, wie ihre Kameradinnen, aber zugleich mit Schreien und den Worten: »Ihr Schweine, ihr nehmt mir mein Kind!« Der Fahrer des Wagens, mit dem wir drei wimmernden Bündel nach Leipzig in ein Kinderheim des Innenministeriums gebracht wurden, auch er von der Polizei, sagte später, dies sei sein erster und letzter derartiger Transport gewesen, nie wieder würde er eine solche Tour machen. Fast hätte es noch ein böses Nachspiel für den reinen Verzweiflungsakt meiner Mutter gegeben, weil der stellvertretende Leiter der Gefängnisburg ihre Worte als strafwürdige Beschimpfung des volkspolizeilichen Bewachungspersonals werten und in der Konsequenz Anzeige erstatten wollte. Es war jener Leiter der Anstalt, den die gefangenen Frauen den »Guten« nannten, der seinem Kollegen mit dem steinernen Herzen untersagte, es zu tun, mit der einfachen Begründung: Man müsse den Schmerz einer Mutter verstehen, wenn ihr das Kind genommen würde, und wohin es sie dadurch reiße. Dieser Mann war schon unmittelbar nach meiner Geburt um mich, das zu früh geborene Kind einer zu zehn Jahren Haft verurteilten politischen Gefangenen, besorgt gewesen und |96| hatte angeordnet, alles zu tun, damit ich durchkäme. Es gibt Engel, Slavik, vielleicht wisst auch ihr davon, die sind manchmal sogar unterwegs in der Uniform der Feinde Gottes, und möglicherweise geschieht das öfter, als wir ahnen.
So haben sich jedenfalls beide, Mutter wie Vater, ohne es voneinander zu ahnen, mit der ganzen Kraft ihrer Charaktere mir in den Weg gestellt, der ich doch gerade dabei war, das Bild einer Familie zu rekonstruieren, die zwar nie die Chance gehabt hatte, eine zu
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