Vereister Sommer
werden. Aber dieses Ausgangsbild hat existiert, eine wirkliche historische Sekunde lang, wie fragmentarisch auch immer, wie gefährlich illusionär. Ihm eine Endfassung zu geben, egal in welcher Konstellation und Farbe, wie konnte dieses Ziel mich nicht verlocken? Geradezu magisch hat es mich angezogen: Und was für ein Glück, wenn es zudem auch noch gelänge in einem doppelten Sinne? Einen Vater zu finden, der nicht nur optisch in das Bildfragment passt! Ein Kind zu sehen,
mich
, in der Mitte zwischen
seinen
Eltern! Und doch habe ich die Kraft aufgebracht innezuhalten, habe der Suche nach diesem Vater, von dem ich nun wusste, dass er tatsächlich da ist, wirklich erreichbar, lebendig und fähig, zu antworten auf meine Fragen, eine Unterbrechung zugemutet, 1993 war das, die zugleich höchst riskant war. Russisch Roulette will ich nicht sagen, das wäre zu frivol; ein Vabanquespiel war es schon. Doch gab es einen Grund, der noch schwerer wog als die Tatsache, dass ich meiner Mutter die Wiederbelebung jener alten Angst um mich aus ihren Gefängnistagen
nicht
zumuten wollte, obwohl mir mein Verstand mit aller Klarheit sagte, dass es für mich keine Gefahr mehr geben könne im Russland von heute, dafür aber mit aller Wahrscheinlichkeit Hilfe, Verständnis, Mitgefühl, wie ich es ja nun in diesen Tagen auch erfahren habe: von Privatpersonen, Offiziellen oder Behörden, die spontan dazu bereit waren.
Du musst wissen, Slavik, ich war nicht das einzige Kind meiner Mutter, obwohl ich es seit langem bin. Vor mir kam |97| meine Schwester zur Welt, im Oktober 1948 wurde sie geboren, auch ihr Vater war ein Russe, er stammte aus Archangelsk, ein Schiffsmaschinist, und auch dieser Mann geriet in die Verfolgungsmaschinerie Stalins. Aber meine Schwester lebt nicht mehr. Sie ist schon lange tot, fast ein Vierteljahrhundert. Als sie starb, im Juli 1976, war ich noch im Gefängnis. Ja, auch ich war im Gefängnis, und auch ich, wie meine Mutter, aus politischen Gründen. Aber ich war kein Opfer wie sie; ich habe die Diktatur, die ihr ebenfalls erlebt habt, die unsrige war ja ohne die eure nicht zu denken, schon sehr früh, mit sechzehn, siebzehn bekämpft: unversöhnlich, bis zu ihrem Ende. Catos berühmter Spruch gegen Kathargo, mit dem er noch jede beliebige Rede abschloss, war auch mein Credo, ging es um die Diktatur, in die ich hineingeboren worden war. Nein, nicht mit Gewalt kämpfte ich, aber mit Gedichten, Pamphleten, aufrührerischen Reden und der Gründung einer Widerstandsgruppe, die eine illegale Zeitschrift herausgab, ein Samisdatblatt, würde man bei euch sagen. Die protestantische Kirche war der Raum, in dem ich mich zurüstete, wie die Helden des Prager Frühlings mit Alexander Dubcek an der Spitze und ihrem Ideal eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« mir nachzueifernde Vorbilder wurden. Von hier und von ihnen aus zog ich mit Freunden in den Kampf – ganz bewusst, risikobewusst, meine ich, wissend also, dass dieser Kampf auch im Gefängnis enden könnte. Das war lange die größte Sorge meiner Mutter, sie wusste ja, wie es war im Gefängnis, aber wenn sie mich auch davor gewarnt hat, hat sie mir doch nie meinen Kampf aus- oder gar kleingeredet, nur darauf hingewiesen hat sie mich, immer wieder, dass ich nicht glauben sollte, am Ende
nicht
allein dazustehen, selbst wenn zuvor noch viele an meiner Seite gestanden hätten, am Ende wäre an meiner Seite nur noch Gott, die anderen aber verschwunden, aus elender Feigheit und verzeihlicher Schwäche, aus reinem Glück, und ich würde mit der Fahne in der Hand, so sagte sie immer, alleine dastehen, ganz vorne und ganz |98| alleine, nur Gott wäre dann eben noch da, nur auf ihn könne ich mich verlassen, und das sei keine Philosophie oder Theologie, wie ich sie so gerne betreibe, das sei ihre Erfahrung. Ich gebe zu, dass mir das damals immer ein wenig peinlich war, wenn sie so redete; nicht, dass ich ihr nicht glaubte, und sie hat es auch nie missionarisch oder gar fanatisch gesagt, aber es hatte etwas Entblößendes, und man will seine Eltern ja nicht entblößt sehen, unter keinen Umständen, selbst wenn es nur ihre Seelen sind, die da plötzlich unverhüllt zum Vorschein kommen.
Und als es dann so weit war, im März 1973, und ich, wie einst sie, beim Geheimdienst verschwand, war sie noch immer und wieder die Löwenmutter, die um ihr Junges kämpft. Schon wenige Monate nach meiner Geburt im Gefängnis hatte sie diesen Kampf aufnehmen müssen, und nun, zweiundzwanzig
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