Vereister Sommer
gesetzt, ein Vorzeigebau zu jener Zeit, ausbruchssicher und menschenfreundlich in einem, für rund achthundert Strafgefangene ausgelegt, zu meiner Zeit jedoch hoffnungslos überfüllt: Über dreitausend Häftlinge lebten in dieser von blendendweißen Mauern, massiven Ecktürmen für Maschinengewehrposten, geharkten Todesstreifen und elektrisch geladenem Stacheldraht eingefassten Welt, darunter um die tausend aus politischen Gründen zu hohen Strafen Verurteilte |103| aus beiden Teilen Deutschlands. Den großen Rest bildeten Schwerstkriminelle; auf meiner ersten Zelle, der Nr. 99 in Haus IV, waren von neun Insassen vier oder fünf zu lebenslanger Haft verurteilt, wegen Mordes. An die neunhundert gab es insgesamt von ihresgleichen: Mörder, Doppelmörder, einer, er stammte aus Magdeburg, hatte sogar drei Menschen umgebracht und war zum Tode verurteilt, dann aber wegen seiner Jugend begnadigt worden. Auch traf ich dort einen Medizinprofessor, der an der Universität Rostock, meiner
Alma Mater
, gelehrt hatte: als Toxikologe. Er hatte seine Frau getötet, vergiftet, hieß es, war aber mit dreizehn Jahren Haft davongekommen. Er freute sich, mit mir einen ehemaligen Studenten seiner Universität getroffen zu haben, und beim gelegentlichen gemeinsamen Rundgang in Kolonne und Häftlingskluft auf dem Freihof, wir trugen dunkel gefärbte Uniformteile mit eingenähten gelben Streifen, nannte er mich immer wieder einmal »mein Junge«. Es klang mir eigenartig liebevoll in den Ohren.
Mörder, Slavik, jedenfalls die meisten von ihnen, das lernt man an solch einem Ort schnell, tragen ihre Taten jedenfalls nicht als Stigma im Gesicht. Sie sehen in den meisten Fällen ziemlich normal aus, erschreckend normal, und versuchen unentwegt, in ungeheuer phantastischen Erzählungen, nachzuweisen, dass sie durchaus nicht
die
sind, die sie sehr wohl auch sind, sondern eher Spielbälle unglücklicher Umstände, angeblicher Justizwillkür oder unglaublicher Polizeimanipulationen. Von den wirklichen Opfern, denen sie nicht selten auf äußerst grausame Weise das Leben genommen hatten, von jenen unglücklichen Frauen und Männern, Kindern und Greisen, die unter ihren Händen krepierten, war immer nur wie von den Opfern anderer die Rede, und ich begriff sehr bald, dass der Sinn ihrer Erzählungen vor allem darin bestand, die ungeheure Last der Tat und den damit verbundenen schrecklichen Makel wenigstens in einem einzigen Gesicht verschwinden zu sehen, im Gesicht desjenigen, der gerade bereit war, dem Erzählten |104| einfach Glauben zu schenken oder wenigstens so zu tun, als glaubte er an die Möglichkeit, dass es so gewesen sein könnte, anders jedenfalls, als es im Urteil stand, das die Mörder ausgehändigt bekamen, im Unterschied zu uns Politischen. Die Zellenhäuser, in denen wir saßen, wurden übrigens »Glassärge« genannt, weil ihre Dächer aus gigantischen Fensterflächen bestanden, langen schrägen Lichtschächten, durch die die Sonnenstrahlen bis ins jeweilige Erdgeschoss vordringen konnten und uns beim Einlaufen in die Zellen oder Auslaufen zur Arbeit, durch die perfekte Überwachungsgeometrie der Flure, Gänge und Galerien hindurch und immer im Gleichschritt, manchmal sogar das Gesicht wärmten oder kitzelten, wenn die Kolonne aus irgendeinem Grund ins Stocken geriet oder wir stillstanden, um Kommandos entgegenzunehmen, und trotzdem wagten, einen winzigen Moment lang nach oben zu blicken, hoch hinaus ins Freie.
Meine Schwester, musst du wissen, war eine tapfere junge Frau: Obgleich schon schwer gezeichnet von der furchtbaren Krankheit, strahlte sie mich an wie das pralle Leben, als ich am 26. Februar 1976 eine der Sprecherkabinen der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden betrat und mich ihr und meinem Schwager gegenüber niedersetzte, die verfluchte Glasscheibe vor mir und in meinem Rücken den Polizeioffizier, der mich aus der Zelle geholt hatte und später wieder zurückeskortierte. Sie brachte Nachricht von engen Freunden und Verwandten, sprach andeutungsreich vom Stand der kirchlichen Bemühungen, mich vorzeitig aus der Haft und in den Westen zu bekommen, erzählte von Filmen, die sie und Bernd, ihr Mann, mein Schwager, der treu zu uns hielt, gesehen, von Büchern, die sie gelesen hatten, auch die wenigen Briefe, zwei, die sie mir ins Gefängnis schicken durfte, Sonderbriefe, die wir nur der Tatsache ihrer tückischen Krankheit verdankten, schwärmten von Filmen und Lektüren. Der erste, ein Geburtstagsbrief, erreichte mich
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