Vereister Sommer
ziemlich lieblos in die linke Ecke des Schaufensters gerückt worden. »Wenn das mal nicht Lieferschwierigkeiten einbringt!«, bemerkte ihr Schwager und deutete, wiederum mit einem breiten Grinsen, auf die marginale Lage des Staatspräsidenten im Jubiläumsschaufenster von Süßwarenhändler Rachui. Vor dem Konsum-Warenhaus, früher Otto, drückte sie sich fast die Nase platt: schöne Hüte, schöne Kleider, schöne Röcke, schöne Blusen, aber alles viel |92| zu teuer, was sie da sah. »Die Entscheidung – Konsum-Kleidung«, las sie, musste komischerweise darüber lachen und sagte sich, irgendwann vielleicht. So ging es ihr auch vor den Schaufenstern mit Porzellan und Haushaltswaren, sie liebte Sammeltassen, und dem voller Schuhe. Aber zuletzt war es einfach nur schön, das Schöne wieder mit eigenen Augen sehen zu können, wenigstens dies, und in nicht allzu ferner Zukunft, da war sie sich sicher, würde auch sie sich einiges davon leisten können, jetzt musste erst einmal die Chaiselongue abgezahlt werden, alle vier Wochen brachte sie von den 240 Mark, die sie im Monat verdiente, 30 im Umschlag eine Treppe höher zu Frieda Schult, die sie nur Tante nannte, zum Ende des Jahres würde es geschafft sein. Das größte Glück waren ohnehin die Kinder, sie schliefen zu Hause, Schwester und Bruder endlich zusammen, ruhig und behütet, und sie war wieder bei ihnen, Tag um Tag, Nacht für Nacht. Gott hatte ihre Gebete erhört. Und die der anderen? Sie wusste nicht, warum es so war. Aber es nahm ihr nichts von ihrer Gewissheit, die Dankbarkeit war, nur Dankbarkeit. Schon als sie am 13. März 1951 in ihrem monatlichen Brief schreiben musste, welches Urteil sie erhalten hatte, zeigte sich das, was sie ihr Gottvertrauen nannte und wovon sie nie gelassen hatte, nie lassen würde, auch wenn sie den tatsächlichen Entlassungstag nicht wirklich hatte voraussehen können und er viel später kam, als sie hoffte:
Liebe Mutti u. mein Dickerle! Brief + Paket mit bestem Dank erhalten. Große Freude. Wenn Du mal wieder Wurst schickst, dann bitte nur geräucherte u. in 1 Stück. Die W. war letztes Mal nicht mehr einwandfrei. Alles Andere war gut. Nun etwas weniger Gutes, was ich Euch mitteilen muß. Ich bin vom Russ.
Kriegsgericht wegen Verleitung zum Landeshochverrat zu 10
Jahren Arb.Lg. verurteilt. Nimm Dir das aber um Gottes Willen nicht zu Herzen, denn die 10 J. sitze ich bestimmt nicht, ich lasse den Mut nicht sinken und denke, daß ich bis zu meinem Geburtstag
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spätestens bei Euch bin. Haltet Euch nur recht gesund. Ist meine Große wieder auf dem Posten? Der kleine Ulli bittet seine Oma + Schwester, daß sie ihn recht lieb haben. Er liegt in meinem Zimmer und wir werden bestens versorgt. Soviel Mühe gab man sich in der Klinik nicht mit uns. Was macht Neina, sowie Käte und Fieti? Olsching, kannst Du mir zu Ostern 1 Kuchen schicken + Zahnpasta? Mutti, nicht mutlos sein, sondern Kopf hoch und fleißig Zeitg. lesen, viel. Gnadenerlaß. Die schönsten Ostergrüße. Eure Wendi + Mama«
Am nächsten Tag war die mit Fahnen, Blumen und grünen Girlanden geschmückte Stadt, die meterlang an Rathaus- und Häuserfassaden herabfielen, erfüllt von Musik, Menschenstimmen, Motorenlärm und Geräuschen, die Pferd und Wagen auf dem allgegenwärtigen Kopfsteinpflaster hervorriefen. Lautsprecher verstärkten den Lärm noch, doch nicht einmal der Regen, der zwischendurch fiel, nahm etwas von der Heiterkeit, die über allem lag. Selbst die Propagandaparolen, die sich ständig dazwischendrängten, konnte man übersehen, auch wenn der Wagen der »Ostsee-Zeitung« mit der Losung drohte: »Die Presse ist die stärkste Waffe der Partei!« Der Festumzug, der über den Marktplatz führte, dauerte einige Stunden, aber trotz des durchwachsenen Wetters standen die Menschen dichtgedrängt, in mehreren Reihen hintereinander auf den Bürgersteigen, vor denen die Themen-, Gewerbe- und Betriebswagen vorbeizogen und die vor allem die Geschichte der Stadt spiegelten. Während sie den Jungen aus dem Betriebskindergarten abholte, war ihre Mutter mit der Tochter schon zum Marktplatz vorausgegangen. Eine Virtuosin auf der Nähmaschine, hatte sie ihrem Enkelkind für die Vorfeier im Kindergarten ein Biedermeierkostüm mit Rüschen, Reifrock und Haube genäht. Die Kleine sah so süß darin aus, dass die Schauspieler auf dem Festwagen des Stadttheaters, der, wie alle Abteilungen des Umzugs, nur im Schritttempo an den beiden vorbeizog, spontan darum baten,
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