Vereister Sommer
meine Mutter vor mir, aber hinter der Glasscheibe weinte – und ich sie deshalb nicht in den Arm nehmen konnte, was ich unendlich gern getan hätte. Aber ich lebte, obwohl nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, auf einem völlig anderen Planeten, die Entfernung war so groß, dass ich das Leidensbild meiner Mutter zwar sah, nicht jedoch erreicht werden konnte von ihrer Verzweiflung, die sich darin spiegelte. Nein, ich war nicht verzweifelt, sondern dachte nur: Sie wird nicht daran sterben, sie ist jung, der Krebs, den sie hat, kann besiegt werden, wir werden uns wiedersehen. Als meine Mutter wieder zu sich kam, sagte ich ihr, was ich gerade gedacht hatte, und weil ich es ruhig gesagt hatte, mit einem Ton allergrößten Gottvertrauens, wurde auch sie ruhiger, fasste sich, und der Abschied wurde mir leichter, weil ich sah, dass es ihr besserging, auch |101| wusste ich, dass sie vor dem Gefängnistor nicht allein sein würde, sondern mein treuer Freund Anton Beer, ein katholischer Priester, mit dem gemeinsam ich bereits 1970 wegen einer Demonstration am Grab des Studenten Jan Palach erste Gefängniserfahrungen in Prag und Dresden bei den Staatssicherheitsdiensten beider Diktaturen gemacht hatte, auf sie wartete, um sie in seinem Wagen wieder nach Wismar zurückzufahren. Auf meinem Rückweg in die Zelle war ich versucht, Gott anzuschreien, aber irgendetwas lenkte mich ab, Geräusche, Gebrüll, Kommandos aus dem Gefängnisalltag, ich weiß es nicht mehr genau, und als hinter mir abgeschlossen wurde, das Rasseln der Schlüssel und Knallen der Riegel nachhallte, wusste ich – eine Bibel lag seit einiger Zeit in meinem Spind –, dass ich noch heute im Buch Hiob lesen musste, und sei es nur, um im nächsten Brief nach Hause über meine Lektüre und ihren Sinn zu schreiben, darüber, dass man mit Gott nicht rechten soll, sondern ihm nur vertrauen kann oder aus dem Weg gehen:
Credo
,
quia absurdum
. Ich glaube, weil es absurd ist. Tertullian. Auch das hatte ich an der Universität gelernt, als Theologiestudent. Bis man mich relegierte, aus politischen Gründen. Nicht jede Absurdität war ich bereit zu glauben.
Fortan bewegte sich das Leben meiner Mutter zwischen zwei Schreckenspolen: dem Gefängnis, in dem ich, ihr Sohn, saß, und dem Krankenhaus, in dem man versuchte, das Leben ihrer Tochter, meiner Schwester, zu retten. In der verbleibenden Zeit ging sie pflichtbewusst wie eh und je zur Arbeit ins Kaufmännische Direktorat der Matthias-Thesen-Werft unserer Heimatstadt Wismar, wo sie als Sekretärin des Abteilungsleiters für Elektrotechnik und Reparatur wirkte. Um sechs Uhr fünfzehn begann die Arbeit, um fünfzehn Uhr dreißig war sie zu Ende. Den Weg von der Wohnung zur Werft bewältigte sie, bei jedem Wetter, zu Fuß, er dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Ihr Wecker klingelte Tag für Tag morgens um fünf. Halt gaben ihr Verwandte und Freunde, die Kirche und |102| unser Kater, der seit meiner Verhaftung zwar mein Zimmer ganz allein zur Verfügung hatte, aber nachts dennoch zu meiner Mutter aufs Bett sprang, sich an sie schmiegte und ihr so, wie sie später nicht müde wurde zu betonen, unendlich Trost schenkte: allein durch sein Dasein, seine Nähe, die sie beruhigte und einschlafen ließ, und weil er die mit jeder Nacht neu beginnende Hirnmarter, warum dieser doppelte Schrecken über ihrem Haupt und dem ihrer Kinder schwebe, einfach wegschnurrte. Katzen können das. Und später, als meine Mutter mir mit ihrem Mann Rudolph, einem Böhmen, den sie 1978 geheiratet hat und der, kurioser Zufall, wie unser Vater auch an einem 21. Dezember auf die Welt gekommen ist, in den Westen Deutschlands folgte, war der Kater, dieser vierbeinige Engel, ebenfalls dabei und verbrachte noch einige gute Jahre in Hamburg. Als er 1981 starb, er war alt geworden, beerdigten wir ihn in einem Park in der Nähe der Wohnung meiner Mutter, tief neben einem prachtvollen Rosenbusch. Sie ging sein verborgenes Grab noch lange besuchen und gedachte der treuen Katzenseele auf einer Bank, die nicht weit entfernt davon aufgestellt worden war.
Meine Schwester habe ich nur noch einmal sehen können und sprechen dürfen. Zusammen mit ihrem Mann und einer Sondergenehmigung in der Tasche besuchte sie mich im über dreihundert Kilometer von Wismar entfernt liegenden Gefängnis Brandenburg-Görden, einem ausgedehnten Komplex von großen Häusern aus roten Klinkern und mit Kopfstein gepflasterten Lagerstraßen. Ende der zwanziger Jahre in den märkischen Sand
Weitere Kostenlose Bücher