Vereister Sommer
Seelen petrifizierte Wissen mit auflösender Logik anzugehen, einzubetten in abstrahierende Rationalitätskonstrukte oder die inflationistisch wirkende Konsequenz reiner Statistik, um nicht dem Fatalismus zu verfallen, ist gewiss auch notwendig. Aber die Kälte, die solche Operationen in den Seelen der Opfer, um die es hier geht, geradezu zwangsläufig verbreiten, muss unentwegt |114| gemildert werden durch die liebende Zuwendung an jeden Einzelnen von ihnen, mit dem Bekenntnis: Ich habe dein furchtbares Gefühl nicht; aber ich glaube ihm, seinem schrecklichen Grund. Ich teile deine Angst vor der Zukunft nicht; aber ich begreife sie als Teil deiner Vergangenheit. Ich werde sie nicht übernehmen, wie könnte ich; aber ich will sie dir auch nicht ausreden. Rede. Ich höre. Und werde auf meinem weiteren Weg das Gehörte nicht überhören, nicht vergessen, nicht auslöschen. Selbst wenn du nicht mehr reden kannst, werde ich es, Teil einer Stafette, weitergeben, bis zu dem Tag, an dem auch ich verstumme. Es geht nicht um mögliche Lehren aus der Geschichte, deren Wirksamkeit man ohnehin bezweifeln darf, es geht um die wirklichen Stimmen, zu denen ein Mund gehört, ein Gesicht, ein Leben. Ein ganzer Mensch, sein unbestreitbares Schicksal.
An jenem Tag im Sommer 1993, an dem ich meiner Mutter versprach, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen, die genealogische Schatzsuche einstweilen abzubrechen – am 23. April hatte ich ein Fax aus Moskau erhalten, in dem mir Konstantin Issakow, mein vor Ort recherchierender Journalistenkollege, den nun auch ihr kennt, erstmals den Fund einer Geheimdienstakte über meine Eltern im Militärarchiv und damit die Existenz meines und deines Vaters bestätigte und mir zugleich riet, alsbald nach Moskau zu kommen, um persönlich Einsicht in das Konvolut von, wie er schrieb, rund zweihundert Seiten zu nehmen –, an diesem Tag ging ich, nach dem Gespräch, mit ihr in mein Stammrestaurant im Zentrum Hamburgs, in die
Bar Tabac
, in der vor allem Menschen verkehren, die auf einem ganz anderen Planeten wohnen, ohne dass man ihnen daraus einen Vorwurf machen könnte, aß ein paar Kleinigkeiten, trank mehrere Gläser Wein, rauchte mindestens eine halbe Packung Zigarillos und ließ in meinem Kopf ein ums andere Mal Revue passieren, was mir mein ferner, unbekannter und nun langsam aus dem Meer der in Bewegung geratenen Geschichte wieder auftauchender Vater bis |115| zu diesem Zeitpunkt eigentlich wirklich bedeutet hatte: Nie, musste ich konstatieren, hatte ich ihn vermisst, nie von ihm geträumt, hatte ich überhaupt irgendwann einmal bohrend an ihn gedacht, laut oder leise nach ihm gefragt, mich, in der einen oder anderen Weise, zu ihm bekannt, öffentlich, oder auch nur privat? Aber eigenartigerweise musste ich gar nicht lange durch die rauchgeschwängerte Luft der Bar – in der mit schwarzem und weißem Marmor ausgestatteten Galleria-Passage – starren, einer Schleuse des Luxus und der Moden, in den großen goldgerahmten Spiegel auf der mir gegenüberliegenden Seite, über gegelte Köpfe hinweg und durch souverän hin und her eilende Kellner hindurch, die mich gut kannten und meinen scheinbar geistesabwesenden Blick, wie immer, dem Dichter und Journalisten in mir zuschrieben, dessen Redaktion nicht weit von dieser Bar entfernt lag – ich wurde, wie mein Moskauer Freund vor wenigen Tagen auch, tatsächlich sehr bald fündig: Ja, es hat sie gegeben, die Bekenntnisse, fast wie von selbst. Nein, dieser Wladimir Jegorowitsch Fedotow des Jahrgangs 1925, aus einem Dorf im Oblast Smolensk, von dem ich kaum etwas wusste, er war bis zu diesem Zeitpunkt offenbar nicht nur ein bloßer genetischer Faktor vorbewusster Natur für mich gewesen, eine nicht zu leugnende andere Hälfte der Voraussetzung meiner Existenz: zwar biologisch vorhanden, aber eben nicht existentiell, wenn das mehr meint als nur das unvermeidbar notwendige Zellenpotential!
Ja, es gab tatsächlich Momente, in denen ich nicht nur einfach an ihn dachte oder über ihn redete, zufällig stolperte über seinen Namen in meinem Bewusstsein, weil mir irgendeine Eigenschaft in meinem Denken und Verhalten plötzlich auffiel und nach einer Erklärung verlangte, einer
russischen
vielleicht. Vielmehr wurde er mir in manchen Momenten zu nichts Geringerem als zu einem gewaltigen, weil unwiderlegbaren existentiellen Argument: gegen niemand anderen als meine politischen Feinde, in Situationen stärkster, ja äußerster Konfrontation mit ihnen. Wann,
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