Vereister Sommer
wo? Du wirst es nicht glauben: |116| das erste Mal noch in der Diktatur, aber das zweite Mal schon in der Freiheit. Doch beide Male waren es dieselben Adressaten, jedenfalls kamen sie aus dem Lager ein und desselben Ungeistes, der sich geschichtlich für besonders geistreich hält. Der Unterschied zwischen ihnen bestand nur in der Macht, über die sie verfügten: Die einen besaßen sie total, und das schon viel zu lange, die anderen hätten sie gerne total gehabt, gleichfalls für immer, von diesem totalitären Anspruch werden sie nämlich wie Drogensüchtige getrieben. Die einen waren Richter und Staatsanwalt der Diktatur der deutschen Einheitssozialisten, die anderen zumeist DKP-nahe westdeutsche Schriftsteller und Gewerkschaftsfunktionäre, die mit dieser Diktatur offen oder verdeckt sympathisierten, sie jedenfalls ausspielten gegen die rechtsstaatliche Demokratie, in der sie lebten, indem sie ausgerechnet die SED-Diktatur zur sozialen Alternative umdeuteten oder zu einem unantastbaren Mitgaranten des Weltfriedens. Frieden war die demagogische Leitvokabel in jenen Jahren, im Osten wie Westen. Wer dagegen Freiheit sagte, laut und beharrlich, störte.
Die eine Schlacht, die ich mit Hilfe unseres Vaters schlug, fand im November 1973 statt, in den Tagen meines Prozesses vor dem I A Strafsenat des Bezirksgerichtes Schwerin, zuständig vor allem für politische Fälle; die andere auf dem Kongress des Verbandes deutscher Schriftsteller im März und April 1984 in Saarbrücken, dem ich 1979 beigetreten war. Die Bühne der ersten lag im Verborgenen eines politischen Prozesses einer totalitären Gesellschaft, von dem die Öffentlichkeit selbstverständlich ausgeschlossen worden war, einschließlich meiner Angehörigen; die zweite fand im vollen Licht der Öffentlichkeit einer freien Gesellschaft statt. In die erste wurde ich eher durch die Strategie meiner Verteidigerin gezogen, in der zweiten folgte ich sehr bewusst meiner eigenen.
Der Prozess gegen mich dauerte zweieinhalb Tage, und es war von Anfang an klar, dass sie mich ziemlich hart bestrafen würden: |117| Es sollte abgeschreckt werden mit dem Urteilsspruch über mich, ich war in ihren Augen ein gefährlicher Rädelsführer, der andere anstiftete, die Diktatur als das zu sehen, was sie war: rechtlos, gewalttätig, verlogen. Und dagegen Stellung zu nehmen. Laut und vernehmlich, ohne Angst vor den möglichen Folgen. Besonders angetan hatten es mir die Helden des »Prager Frühlings«, allen voran Alexander Dubcek. Er ist bis heute der Politiker geblieben, den ich am meisten achte und verehre, sein viel zu früher Tod 1992 schmerzt mich immer noch. Damals jedenfalls widmete ich ihm mehrere Gedichte, was ich für keinen lebenden Politiker sonst getan habe, hob ihn in Aufsätzen und Prosatexten hervor, und auch sie kreisten im Untergrund. Vor diesem Hintergrund war es sehr schwer für meine Anwältin, mich überhaupt zu verteidigen: Mit jedem Hinweis darauf, dass ich vielleicht im Recht wäre, oder wenigstens auf mein Menschenrecht der freien Meinungsäußerung, hätte sie sich selbst angeklagt. Und dennoch suchte sie verzweifelt nach einer Lücke, die sie nutzen könnte, um die drohende hohe Strafe wenigstens um ein, zwei Jahre abzumildern. Dabei kam sie auf eine Idee, die richtig und falsch zugleich war: Bei einem ihrer Besuche fragte sie mich mit suggestivem Unterton, ob es nicht so gewesen sein könne, dass ich, aufgewachsen ohne Vater, in Alexander Dubcek so etwas wie einen Vaterersatz gefunden hätte und dadurch verführt worden sei, ihn in einer Situation, wo ihm anscheinend Unrecht geschehen sei, wie ein Sohn zu verteidigen? Was sie nicht ahnen konnte: dass ich psychoanalytischen Konstrukten wie diesem schon damals, mit zweiundzwanzig Jahren, intuitiv misstraute. Das Unrecht, das ich bekämpfte, war so offensichtlich, dass es einer konstruierten familiären Identifikation dieser Art aber nun wirklich nicht bedurfte, um empört zu sein und in Kampfeslust zu geraten. Außerdem, sagte ich ihr,
hätte
ich ja einen Vater, auch wenn ich ihn nicht kennte, und auch er sei ein Opfer dieser Verhältnisse geworden. Dubcek sei mein Vorbild, gewiss, wie die Geschwister Scholl, Graf |118| Stauffenberg oder Dietrich Bonhoeffer und Martin Luther King, dem ich auch, das wisse sie ja, ein Gedicht gewidmet hätte, es sei gerade in der Anthologie »einer neben dir« der Evangelischen Verlagsanstalt Berlin erschienen. Aber um ihn zu verteidigen, müsse er nicht mein Vater sein,
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