Vereister Sommer
1951, da war sie knapp drei Jahre alt und ich gut vier Monate, zum ersten Mal vorgelesen worden war, von meiner Großmutter, festgehalten in einem Brief unserer Mutter aus dem Gefängnis an die Familie:
Liebe Mutti, am 2. 7. erfuhr ich, daß Du am 5. 7. den Jungen aus dem Heim abholen wolltest. Hoffentlich ist alles erledigt und mein Mücki ist zu Haus. Du glaubst nicht, wie glücklich ich darüber bin. Wie haben sich die Mädel dazu gestellt, und was sagt Ihr alle zu meinem Kleinen? Ich hoffe, daß er Euch allen Freude macht. Ist er bei Marg. + Horst? Habt ihn alle recht lieb, denn ich kann es ja nur in Gedanken. Er ist ein lieber kleiner Strolch, kann schon schön Brei essen. Und geht bitte gleich mit ihm zu Dr. Connerth seines Herzens wegen und überfüttert ihn nicht. Zuviel Flüssigkeit darf er nicht haben, damit das Herzchen nicht zuviel Arbeit hat. Dorli + Neina, paßt schön auf das Brüderchen auf, bis die Mama kommt, Dorli, und sei selbst immer Mamas liebes Mädel u. vergiß die Mama nicht. Hoffe, daß es allen gut geht, mir selbst gehts auch gut. Schicke mir bitte in jedem Paket Zwiebeln mit, ich brauche sie. Dann bitte ich um Zahnpasta, Seife, Brausepulver u. Zitrone. Die K.Sachen wollte ich per Nachnahme nach Hause schicken, aber bisher noch nicht Bescheid. Wenn die Sachen bis Ende Juli noch nicht zu Hause, so schickt bitte etwas Geld. Käte alles Gute zum Geburtstag und Hochzeitstag, sowie Dir, den Kindern, Marg. +
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Horst, Käte und Fieti herzl. Grüße von Wendi. Ich warte auf Post von Euch.
Noch kurz vor ihrer Entlassung, die sie in diesem Moment nicht im Geringsten ahnte, im Oktober 1953, bat meine Mutter, fast am Ende ihrer Kräfte, ein letztes Mal aus der Haft meine Schwester eindringlich, in einem Brief zu ihrem fünften Geburtstag, Sorge für mich, den kleineren Bruder, zu tragen, und meine Schwester hat es getan: damals, später, bis zum Schluss, als ihr nur noch das Gebet blieb und die Hoffnung, mit ihrem Verschwinden aus der Welt jenem Gott näherzukommen, an den sie zuletzt mit einer Gewissheit glaubte, die rein war wie die Gewissheit von Kindern, die mit unerschütterlicher Naivität an den
lieben Gott
glauben:
Hoheneck, den 29. 10. 53
Mein geliebtes Mädel, meine Dorle! Zu Deinem Geburtstag sende ich Dir die herzlichsten Glückwünsche und wünsche Dir alles erdenklich Gute, vor allen Dingen Gesundheit. Noch immer kann ich nicht bei Dir sein und Dich auf den Schoß nehmen und nach Herzenslust Dich drücken. Dorle, meine Dorle, was würde ich darum geben, bei Euch zu sein. Bleibe Du nur mein liebes, braves Blondengelchen und bete unverzagt weiter, einmal wird der liebe Gott schon hören. Der liebe Gott sieht alles und weiß schon, wann er Dir Deine Mami wiedergibt. Sei auch lieb zu Deinem Brüderchen und zur Omi, damit Omi Freude hat. Gib unserm Ulli viele Küßchen von mir und drück auch Omi ganz doll von mir. Viel, viel muß ich an Dich, an Euch alle denken, und viele ungeweinte Tränen brennen dann im Herzen. Nun schickt auch Dir viele herzinnige Küssi Deine Mami. Meine liebste, beste Mutti! Für den lieben Brief und Paket habe recht, recht herzlichen Dank. Deine Post ist ja das einzige, was mich noch aufrechterhält. Ansonsten bin ich wieder an dem Punkt angelangt, wo ich nur tiefste Verachtung
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für die Menschen habe. Wie muß man seinem Schöpfer dankbar sein, daß man Charakter und Ehrgefühl mit auf die Welt bekommen hat, so daß man vor sich selbst bestehen kann. Ach, Mutti, einmal möchte ich mich bei Dir ausweinen können und somit alles, alles Häßliche, was auf uns einstürmt, vergessen. Verzeih, daß ich Dir das alles schreibe, aber Du wirst und kannst mich verstehen. An alle, alle recht herzliche Grüße; immer Eure Wendelgard. Der kleinen Susi und ihrem Papi die herzlichsten Glückwünsche!!
Als dieser Brief die Gefängnisburg verließ, voller Bitterkeit und innerer Düsternis, auch, weil er auf ein unausgesprochenes Ereignis Bezug nimmt, auf einen niedergeschlagenen Hungerstreik der Häftlinge, war in Moskau schon länger etwas in Gang gekommen, das auch ihr am Ende die Freiheit bringen sollte. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten die gefangenen Frauen nur Gerüchte vernommen, dennoch waren in einem Fall auch konkretere Informationen über Entlassungen von Deutschen in Russland durchgesickert: Eine Mutter, die in ein sibirisches Arbeitslager gekommen war, hatte ihrer Tochter in Hoheneck ein Telegramm geschickt, das von ihrer
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