Vereister Sommer
aufgegeben, als er tragen kann. Wenn es für den Betreffenden oft auch schwer ist, dies zu glauben, aber wenn man nur daran festhält, so hat man auch die Kraft und den Mut, die man braucht, um alles durchzustehen. In der letzten Predigt am Sonntag (Radio) hörte ich ein gutes Wort von Bonhoeffer: »Gott gibt nur soviel Kraft wie wir gerade brauchen, damit wir uns nicht auf uns, sondern auf ihn verlassen.« Ja, mein lieber Ulli, damit will ich den heutigen Brief enden lassen. Mache Dir Deinen Tag so schön, wie’s geht. Daß Möglichkeiten sind, wissen wir von Mutti her. Ich gebe mir auch große Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Einen Brief darf ich Dir ja noch schreiben. Der geht Ende März dann auf Reisen. Sei für dieses Mal ganz innig gegrüßt und umarmt von Deiner zwar älteren, aber dennoch kleineren Schwester, die ihren Bruder sehr lieb hat, und von Deinem lieben Schwager Bernd …
Den angekündigten zweiten Brief erhielt ich einen Monat später, Anfang April. In ihm dankte sie mir ein weiteres Mal vor allem für Gedichte, die ich im Gefängnis geschrieben und in meinen Briefen nach Hause geschickt hatte, und schwärmte erneut von der wunderbaren Gabe, die nicht vielen gegeben sei und die sie nur bewundern könne. Dann notierte sie Titel und Inhalt des neuesten Buchkaufs für mich. Es waren die Gefängnisbriefe »Wie man eine Flaschenpost ins Meer wirft« von Gabrielle Roussier, einer französischen Lehrerin, die durch ihre Liebe zu einem Schüler mit den Strafgesetzen in Konflikt kommt, ins Gefängnis gerät, dort auf unwürdigste Weise behandelt wird und später Selbstmord begeht. Danach berichtete sie vom Kauf der »Moabiter Sonette«, von der Ermordung ihres Autors Albrecht Haushofer durch die SS, noch am 23. April 1945 in Berlin, und zitierte daraus das Gedicht: »Die Tiger-Affen // In China hieß ein Weiser schon vorzeiten / den Tiger-Affen das erhabne Tier / (– als homo sapiens benannt |108| man’s hier –). / Der Name wäre gut, ihn auszubreiten. // Dem Affen gleich im Spielen seiner Triebe, / dem Tiger gleich an mörderischer Kraft, / so hat der Mensch Gewalt an sich gerafft / und wird zum Teufel, mangelt ihm die Liebe. // So wachsen Mord und Brand und Quälerei / mit stolzem Wissen immer neu verbunden – / von Menschen ganz allein wird so geschunden. – // Und ließ ein Göttlicher sich heut herbei, / sie nur zu mahnen, stürb er morgen schon, / ans Kreuz genagelt unter Spott und Hohn.« Es waren eindeutige Botschaften, gegen die die uniformierten Mitleser, die sich Antifaschisten nannten, nur schwer etwas ausrichten konnten: Der Zitierte war ein Opfer des Faschismus, wie sie zu sagen pflegten. Aus dem fast zeitgleich eintreffenden Monatsbrief meiner Mutter erfuhr ich, dass ein weiteres Exemplar der »Moabiter Sonette« gekauft worden war: für mich, von ihr, zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Ich besitze das Buch heute noch.
Einhundert Tage später war meine Schwester tot. Das letzte Lebenszeichen, das mich von ihr erreichte, hatte sie sich, unter Aufbietung ihrer ohnehin nur noch geringen, nun aber immer schneller dahinschwindenden Kräfte, in den Stunden ihres Sterbens abgerungen: Wenige Zeilen, schütter auf einen kleinen Briefbogen gesetzt, kulminierend in den Worten, dass wir uns ganz gewiss wiedersähen, sicher nicht mehr in dieser Welt, aber frei und ohne Zwang und alles Elend bei Gott, und vielleicht würde ihre Fürsprache bei ihm meine baldige Entlassung nach sich ziehen. Bis dahin solle ich nur tapfer meinen Weg gehen.
Ich habe diesen Brief, den mir der für mich zuständige Polizeioffizier in meiner Zelle mit einem hingemurmelten Satz aushändigte, den man als Beileidsbekundung deuten konnte, nur ein einziges Mal wirklich zu Ende gelesen: in eben dieser Zelle, allein und blind vor Schmerz. Den Mann, den ich im Spiegel über dem Waschbecken sah, durch die Blendung hindurch, |109| erkannte ich nicht. Ich weiß nicht, wer dieser auf einen kleinen weißen Brief starrende Mann war, den ich in all dem Schwarz, das ihn umgab, wahrnahm, und ich frage mich das bis heute. Knapp vier Monate später war ich frei, war im Westen. Am Grab meiner Schwester stand ich erst Jahre später, im Dezember 1989, nach dem Fall der Mauer. Mit ihren dem nahen Tode abgerungenen Zeilen an mich hatte sie, so begriff ich später, als ich endlich die ersten Blumen auf ihr Grab legen konnte, bis zuletzt und darüber hinaus eine nie aufgehobene Bitte meiner Mutter erfüllt, die ihr im Juli
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