Vereister Sommer
Freilassung kündete. Nur in Hoheneck selbst tat sich nichts, kein Offizieller sagte etwas. Deshalb war der Hungerstreik ausgebrochen. Es war schwer für alle, kein Essen zu sich zu nehmen, und die VP reagierte zunächst brutal, indem sie den Kranken, die sich dem Hungerstreik angeschlossen hatten, eine weitere Behandlung mit Medikamenten verweigerten. Doch die davon Betroffenen ließen sich nicht erpressen; sie hielten durch, und die VP beendete die Medikamentensperre. Nach drei Tagen war der Widerstand dennoch gebrochen, die Rädelsführer verschwanden in anderen Gefängnissen, die Zurückbleibenden in Hoheneck wurden verlegt, um Bindungen und Netzwerke zu zerschlagen. Die neue Gemeinschaft, in der meine Mutter landete, war trotzdem nicht bereit aufzugeben. Auf einem improvisierten Silvesterfest trat |112| eine als russischer Offizier verkleidete Mitgefangene auf und verkündete mit großer Rede und Gestik für das neue Jahr eine Amnestie. Ein makabres Hoffnungsspiel, geboren aus Verzweiflung und Galgenhumor, doch viele begannen zu weinen, besonders die älteren Frauen, die von allen nur »Mütterchen« genannt wurden.
Das alles, lieber Slavik, sind die Gründe, warum ich vor einem halben Jahrzehnt die Kraft fand, ausgerechnet im Moment des Entdeckens, dass unser Vater noch lebt, meine gerade erst begonnene »Reise« zu ihm und euch, von denen ich damals noch nichts wusste, zu unterbrechen: Wie konnte ich der Frau, die meine Mutter ist, jene inständig vorgetragene Bitte abschlagen, mich nicht erneut in Gefahr zu begeben? Eine Gefahr, die ich nicht sah; sie aber sah sie: das Wort »Russland« reichte. So wie anderen, noch immer, das Wort »Deutschland« reicht. Auch während ihrer Jahre auf der Wismarer Matthias-Thesen-Werft hat sie nicht den geringsten Zweifel daran gelassen, dass alles, was mit der Sowjetunion zusammenhing, für sie vollkommen erledigt war, und wenn es darauf ankam, sagte sie es auch, nach wie vor frei von Angst im entscheidenden Moment, laut und vernehmlich und dem jeweiligen Gegenüber mitten ins Gesicht: wie 1962, als die Abteilung, in der sie das Sekretariat leitete, einen neuen Chef bekam, Kienast sein Name. Ein hagerer Mann mit scharfen Gesichtszügen, der sie sogleich fragte, wo man die Beiträge für den FDGB und die DSF bezahlen müsste? Die Stelle des Gewerkschaftsbundes konnte sie ihm nennen, die der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft nicht. Der Mann mit dem Parteiabzeichen am Revers, von dem man wusste, dass er im KZ gesessen hatte, war verblüfft und fragte, ob sie denn nicht Mitglied sei? Was sie entsprechend beantwortete, nur um ihn damit noch mehr zu verblüffen. Der ehrgeizige Genosse, der seine neue Abteilung so gerne auch geschlossen in der DSF gesehen hätte, lediglich meine Mutter fehlte noch, ließ deshalb nicht locker |113| und sagte immer wieder einmal zu ihr, dass man sich doch noch mal über ihre Nicht-Mitgliedschaft unterhalten müsse; was könne denn ein Bürger der Republik, die es ohne die Sowjetunion nicht gäbe, dagegen haben? Sie habe nichts dagegen, antwortete meine Mutter, sie habe lediglich ihre Gründe. Doch auch diese Auskunft beruhigte den Mann nicht, im Gegenteil: Jetzt bohrte er noch intensiver weiter. Er tat es solange, bis meiner Mutter der Kragen platzte und sie ihm den nur scheinbar kryptischen Satz an den Kopf warf, dass sie vor allem deshalb niemals in die DSF eintreten würde, weil sie
nach
1945 dort gewesen sei, wo er
vor
1945 gewesen wäre. Jetzt endlich hatte der Mann verstanden, und von nun an fragte er nicht mehr. Die Sowjetunion war für sie einfach erledigt, und Russland gleich mit.
Ich teile eine solche Sicht auf die Wirklichkeit nicht, Slavik, weil sie weitergeht, die Geschichte, und die nachwachsenden Menschen ein Menschenrecht darauf haben, nicht mit den Monstern der Vergangenheit identifiziert und so unter immerwährenden Verdacht gestellt zu werden; aber die weitergehende Geschichte löscht die dramatischen Geschichten all jener nicht aus, die sie mit ihr, der großen Geschichte, die zuletzt über alles hinweggeht, schmerzhaft erfahren haben. Sie sind in der Welt, und sie bleiben es: so lange, bis diese Menschen für immer verstummen. Damit sie nicht vorher verstummen, bei lebendigem Leibe, was wie ein kaltes Verbrennen wäre, haben wir Rücksicht zu nehmen, bis in den letzten Bedeutungswinkel des Wortes: auf jeden Einzelnen von ihnen und das, was sie felsenfest wissen und uns ein ums andere Mal sagen, sagen müssen. Dieses in den
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