Vereister Sommer
aufgrund meiner Depression? Ich weiß nicht, was ich mach …
Schacht:
Stehen Sie zu dem Bild!
Passon:
Wie bitte?
|141| Schacht:
Stehen Sie zu dem Bild von sich, das ist tapferer, das ist konsequenter, als wenn Sie flüchten! Stehen Sie dazu.
Passon:
Ja, Sie sagen das so, ich hab Ihnen ja gesagt, warum.
Schacht:
Vor den anderen brauchen Sie keine Angst zu haben. Das sag ich Ihnen. Es tut Ihnen keiner was.
Passon:
Na, das wissen Sie nicht.
Schacht:
Doch, doch, glauben Sie mir das. Stehen, stehen Sie zu dem Bild, und dann …
Passon:
Ja?
Schacht:
… dann ist das ein erster Schritt. Wenn Sie was für mich tun wollen, dann stehen Sie zu dem Bild.
Passon:
Ich, ich, was ich machen kann, mach ich gern, Herr Schacht.
Schacht:
Das ist ein ganz kleiner Dienst, den kann ich verlangen, glaube ich.
Passon:
Ich, ich …
Schacht:
Ja?
Passon:
… wäre auch der Letzte, der vor der Kamera Ihnen nicht die Hand gibt und Sie öffentlich …
Schacht:
Wir haben’s ja gemacht. Das reicht aus.
Passon:
Ja?
Schacht:
Es muss nicht demonstriert werden.
Passon:
Ja, ja, ich sage es Ihnen bloß.
Schacht:
Leben Sie in Frieden.
Passon:
Ich wünsche Ihnen …
Schacht:
Leben Sie in Frieden.
Passon:
… alles, alles, alles erdenkbar Schöne und Gute.
Ein gutes Jahrzehnt später nach dem Prozess gegen mich, unter dem Vorsitz dieses Mannes, am 31. März 1984, zog ich mit unserem Vater erneut in die Schlacht. Sie fand im westlichsten Westen Deutschlands statt, in Saarbrücken, und sie war eine Schlacht zwischen deutschen Schriftstellern aus allen Teilen des damals noch gespaltenen Landes, vordergründig |142| ging es um die Mutation eines bestimmten Artikels in einen unbestimmten in einem Brief des Vorstandes jenes Schriftstellerverbandes, dem wir zu jener Zeit noch alle angehörten, an den polnischen General Jaruzelski, der seit 1981 Militärdiktator Polens war. Eine Schlacht, die nicht so absurd war, wie sie zu sein schien, aber für Menschen im Osten, Menschen wie euch, Slavik, hätte sie vollkommen absurd ausgesehen, hättet ihr zu jener Zeit davon gewusst, denn ihr hättet nicht geglaubt, dass es im Westen zahlreiche Intellektuelle gab, Schriftsteller vor allem, die unentwegt Gründe fanden, den unaufhebbar kriminellen Charakter der kommunistischen Diktaturen im Osten zu übersehen oder zu relativieren oder sogar frech zu behaupten, wie die Mitarbeiter des »Wahrheitsministeriums« im Roman »1984« von George Orwell, der damit brandaktuell im doppelten Sinne war, in diesen Staaten herrschten wahrer Menschheitsfortschritt, wahre Freiheit, wahre Friedensliebe. Dabei konnte man im symbolträchtigen Jahr 1984 nun wirklich alles wissen über jene Staaten, ihre Legitimationsideologie und Herrschaftspraxis, deren Nutznießer und Funktionäre sich auf den Petersburger Staatsstreich vom Oktober 1917 und seinen Anführer Wladimir Iljitsch Lenin beriefen wie auf einen bluttriefenden Christus: Jahrzehnte nach dem 17. Juni 1953 und seinem Ende mit Schüssen aus Maschinenpistolen, Maschinengewehren, Panzerkanonen und der Guillotine zu Dresden, nach der mörderischen Vernichtung eines um seine Freiheit kämpfenden Ungarn 1956, nach der gewaltsamen Zerschlagung des so geistreichen wie friedvollen »Prager Frühlings« 1968 und dem Militärputsch gegen die zutiefst christlich inspirierte polnische Gewerkschaftsbewegung »Solidarność« 1981, nach Solschenizyns »Archipel Gulag«, Nadeshda Mandelstams »Jahrhundert der Wölfe«, den Büchern von Weissberg-Cybulski, Peter Jakir, Wenjamin Kawerin über den stalinschen Massenterror und zahllosen anderen Zeugnissen und Dokumenten. Es war deshalb schlicht unerträglich, Mitglied einer Organisation |143| zu sein, in der sich zahlreiche Leugner und Verharmloser dieser geschichtsnotorischen Schreckensherrschaft nicht nur einfach tummelten, sie gaben plötzlich geradezu den Ton an, und eben das war es, was das Fass zum Überlaufen brachte, aus der scheinbaren Petitesse eines unbestimmten Artikels in einem Brief eine organisationspolitische Sprengbombe werden ließ. Schlau, wie sie zu sein glaubte, hatte die Fraktion der Verharmloser um den Verbandsvorsitzenden Bernt Engelmann den polnischen Diktator nicht etwa um die Wiederzulassung des von ihm verbotenen polnischen Schriftstellerverbandes gebeten, des einzig legitimen also, sondern lediglich um die Zulassung eines neuen. Dagegen hatte der Militärdiktator mit Präsidententitel natürlich nichts, wohl aber die polnischen
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