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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Schriftsteller selber, wie auch wir, ihre Verteidiger im westdeutschen Verband deutscher Schriftsteller, im Unterschied zu all jenen in der Organisation und an ihrer Spitze, die dabei waren, ihren aus unserer Sicht doppelmoralischen Frieden mit den parteigelenkten Autorenverbänden des Ostens, insbesondere der SED-Diktatur zu machen, die Schriftsteller wie ich nach wie vor kompromisslos ablehnten. Das war im Frühjahr 1984 die Situation, und das heißt: Die Situation in Saarbrücken, wo der Kongress zwischen dem 30. März und dem 1. April tanzte, war politisch so aufgeheizt wie nie zuvor, der Verband ideologisch zutiefst gespalten, aber zu unserer Fraktion mit Autoren wie Erich Loest und Jürgen Fuchs, die ebenfalls wie ich in der SED-Diktatur im Gefängnis gewesen waren, gehörten die berühmtesten Schriftstellerköpfe des Landes, und sie waren eindrucksvoll präsent in dieser Schlacht: Heinrich Böll, Siegfried Lenz, Günter Grass. Mit Leib und Seele und starken Reden und Widerreden. Und einer der Redner, der zu ihrer Fraktion gehörte, war eben auch ich, und in meiner Rede an jenem 31. März 1984 in dem mit Delegierten und Gästen vollbesetzten Saal, vor Fernsehkameras, Rundfunkmikrophonen und zahlreichen Zeitungsjournalisten aus dem In- und Ausland, sprach ich auch über unseren Vater, |144| über meine Mutter und ihr gemeinsames Schicksal, so wie es sich mir damals noch darstellte. Tiefeninspiriert war diese kurze Rede von einem Satz Adornos, jenes so verehrten wie gehassten deutschen Philosophen der Nachkriegszeit, dessen zugespitzte Sätze oft unerträglich sind, aber meist
notwendig
im Sinne des Wortes, wie eben auch dieser, auf den ich mich zwar nicht berief, von dem ich mich aber ungemein legitimiert fühlte: »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.«
     
    Liebe Kolleginnen und Kollegen,
     
    … ich will nicht die endlose Kette bekannter historischer Daten aufzählen, die jeder verantwortungsbewusste deutsche Schriftsteller und Gewerkschafter nicht nur kennen kann, sondern auch kennen muss: die abstrakten Daten für konkrete politische Verbrechen in den Staaten der Welt, die sich kommunistisch oder volksdemokratisch nennen. Ich möchte statt dessen eine ganz kurze Geschichte berichten, die auf den Einzelfall abzielt, der gleichfalls zahllos zu finden ist bis heute und zumindest mein Verhalten bestimmt. Im Jahre 1949 lernte ein junger Offizier der Roten Armee, dessen Eltern und Geschwister bei der Belagerung Leningrads durch die faschistische deutsche Wehrmacht ausnahmslos ums Leben kamen, im mecklenburgischen Wismar, der sowjetischen Besatzungszone, eine junge Frau kennen und lieben. Beide wollten nach längerer Zeit des Zusammenseins für immer zusammenbleiben. Ein Kind war unterwegs. Sie stellten einen Antrag auf Heirat, der mit einer radikalen Ablehnung durch die zuständigen Militärbehörden beantwortet wurde und mit der Abkommandierung des sowjetischen Offiziers in die UdSSR. Angesichts dieser Tatsache entschlossen sich beide Menschen zur Flucht nach Westdeutschland, um dort so zusammenleben zu können, wie sie es wollten. Das Vorhaben wurde verraten. Es folgten Verhaftung und Verurteilung. Die junge Frau erhielt 10 Jahre Arbeitslager, der junge russische Offizier 25. Beide sahen
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sich seit diesem Tag nie wieder. Das Kind der jungen Frau wurde von ihr in einem zentralen DDR-Gefängnis, Hoheneck/Sachsen, geboren und ihr nach drei Monaten heimlich weggenommen. Eine Liebe in Deutschland, Teil 2. Diese Frau ist meine Mutter, der russische Offizier mein Vater. Wir haben ihn nie wiedergesehen. So der Beginn meiner Biographie, und man könnte ihn einen Zufall nennen, wenn er nicht in allen seinen Aspekten ein tausendfacher gewesen wäre. Also ein Ausdruck eines Systems
.
Das … sind unsere Motive, und Sie sollten das endlich zur Kenntnis nehmen! Denn die Summe unterm Strich beweist, dass gerade die gesellschaftliche Qualität dieser Regime, denen wir entkommen sind, absolut unterm Strich ist. Darum geht es. Zumindest mir … Es liegt für mich in der Logik dieser meiner Erfahrungen, wenn ich nicht nur den demokratischen Antifaschismus, denn dem Faschismus sind die Angehörigen meines Vaters zum Opfer gefallen, sondern auch den demokratischen Antikommunismus, wie ihn zum Beispiel Kurt Schumacher vertrat, für eine politische Grundtugend des 20. Jahrhunderts halte, eben nicht aus Unkenntnis oder Hysterie, sondern aus ureigenen Erfahrungen, die von Millionen

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