Vereister Sommer
studierte und Dozent an der Staatsuniversität in Riga wurde. Im Verlaufe der Okkupation des Baltikums durch Stalins Armeen nach dem deutsch-sowjetischen Pakt, mit dem der Zweite Weltkrieg ausgelöst wurde, Stalin beglückwünschte Hitler ja begeistert zum Sieg über Polen, das sie gemeinsam geschlachtet hatten, ebenso wie zu dem danach über Frankreich, versuchte er, das Land in Richtung Budapest oder Zürich zu verlassen, aber seine Bemühungen scheiterten zuletzt. 1941 schließlich, kurz vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wurde er von der |148| GPU festgenommen und zusammen mit seiner Frau nach Sibirien deportiert, wo sich bald darauf ihre Spuren verloren. Schubarts Buch war 1938 im Schweizer Vita Nova Verlag erschienen, die erste deutsche Ausgabe kam 1951 bei Neske heraus, dem Verlag, der genau dreißig Jahre später auch mein erstes Buch veröffentlichte, den Gedichtband »Traumgefahr«. Geschenkt hatte mir Schubarts Buch Günther Neske, der Verleger, selber; ich hatte ihm von der Geschichte meiner Mutter mit unserem Vater erzählt: »Das müssen Sie unbedingt lesen, mein Lieber«, sagte er zu mir, als er mir das Buch im grünen Schutzumschlag, darauf schlichte weiße Schriftzüge, mit gespanntem Gesichtsausdruck überreichte: »Dann erfahren Sie mehr über sich und Ihre russische Seele, selbst wenn es nur eine halbe ist!« Gleich danach erzählte er mir, der Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg gewesen war, auch an der Ostfront, von einer Begegnung mit einem russischen Piloten in einem höchst prekären Moment hoch oben in den Wolken, da er keine Munition mehr an Bord hatte, um sich gegebenenfalls wehren zu können. Aber der Russe machte keine Anstalten, ihn anzugreifen, und so zogen beide aneinander vorbei, sich gegenseitig mit dem internationalen Fliegergruß ehrend: durch ein Wackeln mit den Flügeln. Er erzählte das so plastisch, dass ich für Sekunden das Bild der elegant aneinander vorbeizischenden Maschinen über dem Frontverlauf vor mir sah, wie sie dem jeweils eigenen Sicherheitsbereich entgegenstrebten, das weiß eingefasste, schwarze Hakenkreuz am Heck hinter sich herziehend, den roten Sowjetstern, und wie sich beide Schreckenssymbole der Epoche im endlosen Himmelsblau jenes Tages verloren. Schubarts Buch, das auch Heinrich Böll so schätzte, war Neske übrigens von Ernst Jünger empfohlen worden, einem berühmten deutschen Schriftsteller und Soldaten, der es schon seit 1943 kannte, weil es in den militärischen Widerstandskreisen zirkulierte, denen er nahestand, in seinem »Zweiten Pariser Tagebuch« hat er daraus mehrfach zitiert. Dass Böll mit diesem Buch nicht weniger |149| anfangen konnte als sein scheinbarer Antipode im westdeutschen Literaturbetrieb, Ernst Jünger, zeigte mir aber nur die Fähigkeit Bölls, ideologische Klischees, wenn es darauf ankam, vollkommen zu ignorieren. Von daher ist sein Vorwort in diesem Buch auch nicht zufällig provokativ in alle politischen wie geistesgeschichtlichen Himmelsrichtungen: es geißelt den seelenlosen Westen, seinen kalten Rationalitätsglauben und Ökonomismus nicht weniger als den massenmörderischen Archipel Gulag und das dazugehörige ideologische System wie den vernichtungsbesessenen NS-Rassismus und seine kolonialistische Blut-und-Boden-Ideologie, und er identifiziert sich zuletzt ganz klar mit Schubarts Diktum: »Der Westen hat der Menschheit die durchdachtesten Formen der Technik, der Staatlichkeit und des Verkehrs geschenkt, aber er hat ihr die Seele geraubt. Es ist die Aufgabe Russlands, sie dem Menschen zurückzugeben.« War es das, was mich an diesem Buch und seinem Vorwort so fasziniert hatte? Weil es mir auch etwas von mir selbst erklärte, von meiner Gefühlslage vor allem im Westen, den ich doch immer verteidigt hatte, aber seit meiner Ankunft dort, im November 1976, diesbezüglich ein stetig wachsendes Defizit verspürte, das auch einem geographisch reinen Westmenschen wie Böll offenbar nicht verborgen geblieben war. So war es also logisch, begriff ich in jener Nacht in Saarbrücken,
seelenlogisch
gewissermaßen, dass er mir selbstverständlich beigesprungen war, mit einer fast väterlichen Geste, er, der rheinische Katholik – mir, dem norddeutschen Protestanten halbrussischer Abkunft, der dem Alter nach sein Sohn hätte sein können! Um so betrüblicher war es für mich, nur ein gutes Jahr später hinter seinem Totenschrein hergehen zu müssen, im Sommer 1985, zusammen mit vielen Schriftstellern aus Ost und West, von
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