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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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Menschen geteilt werden … Wenn deutsche Gewerkschafter die Sprache unserer Staatsanwälte in der DDR und Richter sprechen …, dann widersprechen wir kraft unserer Erfahrungen und verlangen, milde formuliert, Korrektur! Nicht zuletzt deshalb, weil wir den Sinn und Wert von Gewerkschaften für die Stabilität der Demokratie sehr wohl begreifen, und in Deutschland allemal!
     
    Natürlich erhielt ich für diese Rede Applaus, und natürlich nur von der eigenen Fraktion, etwas anderes hatte ich auch gar nicht erwartet. Aber nun war es endlich ausgesprochen, mit entschiedenem Ton und in die größtmögliche Öffentlichkeit hinein: das Schicksal meiner Eltern und damit der Beginn meines Lebens, von dem ich hoffte, und nur darum hatte ich mich entschlossen, es auszubreiten, dass es ein paar der Gegner im Saal sensibler machen könnte, durch eine Art produktiver |146| Irritation. Empathie durch Schicksalskunde, Reflexion durch Glaubwürdigkeitsbeweis. Zwar war dieses öffentliche Reden über unseren Vater und meine Mutter mit einem nicht ganz unwichtigen Fehler behaftet, der meinem damaligen Kenntnisstand entsprach, aber dadurch wurde es im harten Kern nicht unwahr. Ich wusste ja noch nicht, was ich erst seit vorgestern weiß: dass Wladimir Jegorowitsch, zum Glück, muss ich sagen,
nicht
ins Lager gekommen war, für fünfundzwanzig Jahre, wie es der Vernehmer meiner Mutter gegenüber nach ihrer Verurteilung behauptet hatte, en passant sozusagen und mit einem maliziösen Lächeln. Wollte er sie mit dieser Lüge beruhigen, vielleicht sogar trösten, angesichts ihrer Strafe, die nun plötzlich ziemlich klein wurde? Oder wollte er sie, gerade weil sie so gering bestraft worden war im Rahmen dessen, was seine Terrororganisation sonst an Urteilen zumaß, quälen über den Tag hinaus, indem er ihr die Last ins Bewusstsein pflanzte, den Mann ins Lagerelend nach Sibirien getrieben zu haben, den sie geliebt hatte und von dem sie ein Kind erwartete, durch ihren verwegenen Wunsch, gemeinsam mit ihm in den Westen zu flüchten und dort ein neues Leben aufzubauen? Ich weiß es nicht, und wir werden auch nicht mehr erfahren, ob es sich bei ihm um einen Tröster oder Quäler handelte, aber als der Applaus verklungen war und ich zurückging an meinen Platz, verfolgt von zahlreichen Augenpaaren, die mich entweder musterten wie ein lebendes Fossil oder aber mir verstohlene Blicke voll Verständnis, ja sogar Wärme zukommen ließen, geschah plötzlich etwas vollkommen Unerwartetes: Heinrich Böll, diese moralische Instanz, im Land wie im Raum, auch in Russland ist er ja berühmt und vielleicht auch dir ein Begriff, Slavik, den selbst die Betonköpfe im Saal nicht wagten anzugehen, er hatte bereits eindrucksvoll geredet, stand, scheinbar aus dem Nichts gekommen, vor mir, legte seinen Arm um meine Schulter und zog mich behutsam an sich, um hörbar für die Umstehenden zu sagen: »Und wir bleiben doch Kalte Krieger, lieber Herr |147| Schacht, nicht wahr?!« Es war, anders kann ich es kaum sagen, ein gewaltiger menschlicher Schutzschild, den er in diesem Moment und mit dieser Geste aus dem Geist offensiver Selbstironie um mich aufrichtete, und fast, auch das muss ich zugeben, wären mir die Tränen gekommen: vor Glück. Denn wenn Böll mir glaubte, sich anrühren ließ vom Beginn meiner Lebensgeschichte, sichtbar für alle, dann hatte kein anderer mehr die Chance, das von mir Gesagte in Zweifel zu ziehen, wenigstens nicht offen. Beim gemeinsamen Abendessen mit ihm, Siegfried Lenz, Günter Grass, Erich Loest, Hans Christoph Buch, Jürgen Fuchs und anderen, die zu unserer Fraktion gehörten, setzte sich für mich diese Geste fort, und noch lange habe ich in der Nacht, wach in meinem Hotelbett liegend, über diese ebenso überraschende wie beglückende Nähe zwischen Böll und mir nachgedacht. Habe Erklärungen gesucht, die nicht nur in seiner allseits bekannten Empfindsamkeit für ungerecht behandelte Menschen begründet lagen, besonders in den neostalinistischen Gesellschaften des Ostens – Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew waren vielleicht seine berühmtesten russischen Freunde –, und wurde fündig, weil ich mich plötzlich an eine starke Lektüre wenige Jahre zuvor erinnerte, an das Buch »Europa und die Seele des Ostens«, zu dessen Neuausgabe 1979 Heinrich Böll ein Vorwort geschrieben hatte. Sein Autor, der Jurist Walter Schubart, ein Thüringer, war 1933 vor den National-Sozialisten nach Lettland ausgewichen, wo er Philosophie

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