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Vereister Sommer

Vereister Sommer

Titel: Vereister Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Schacht
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und mit Genuss, aber ich habe Männer gesehen, die
Birkenhaarwasser
getrunken haben, wegen des beigemischten Alkohols, im Gefängnis, ihre Gesichtsfarbe wurde von Mal zu Mal gelber, wir nannten sie nur »die Chinesen«. Sie sahen aus wie Gespenster. Einmal flog aus ihrer Zelle, sie arbeiteten nicht und waren so gut wie ständig darin |188| eingeschlossen, eine Art Geschoss aus Zeitungspapier in den Innenhof, schwer klatschte es auf den kreisrunden Steinplattenweg, auf dem wir gerade im Gleichschritt unsere Freistunde absolvierten. Die Kolonne stoppte, und einer erhielt den Befehl, das merkwürdige Päckchen zu öffnen, es sah aus, als solle er eine Bombe entschärfen. Ich sah es nicht direkt, aber plötzlich, wie alle, hörte ich ihn laut »Scheiße!« schreien, er schrie es nach oben, in Richtung der Zelle, in der die »Chinesen« saßen. Bis eben hatten ihre gelben Gesichter hinter den massiven Gittern das Geschehen im Hof noch unbewegt verfolgt, jetzt waren sie schlagartig verschwunden. Die Kolonne aber erhielt den Befehl, weiterzugehen, doch musste sie einen Bogen um das Päckchen machen, erst danach durfte der unfreiwillige »Bombenentschärfer« die im Zentralorgan der Partei eingewickelten Exkremente wegtragen. Wir hörten sein nicht enden wollendes Fluchen, bis er im Zellenhaus verschwunden war. Er fluchte auch deshalb so laut und so lange, weil er unsere schamlose Heiterkeit mitbekam. Es hallte stärker als der Gleichschritt, in dem wir uns bewegten. Die Wachmannschaft aber blieb ungerührt stehen und ließ ihn schreien. Sie amüsierte sich wie wir.
     
    Bevor Vater sich auf die mit grünem Stoff bespannte Couch setzt, auf der wohl auch geschlafen wird, fragt er überraschend nach meinem Bart und wie lange ich ihn schon trage. Schon lange, sage ich und streiche mir mit der Hand ums Kinn, ob er nie einen getragen habe.
Nein
, sagt er auf Deutsch und lacht und hat meine Frage also verstanden. Auf dem Tisch, neben den ich mich setze, stehen, vor dem Glas mit Birkenwasser, bunte Kaffeetassen und eine weiße Kaffeekanne, ein aufgerissenes Päckchen Zigaretten liegt griffbereit an der Kante. Vater nimmt sich bald eine und raucht. Mir fällt Mutters Erzählung aus dem Vernehmungskeller vor fast fünfzig Jahren wieder ein, die zitternde Hand des jungen Leutnants Wladimir Jegorowitsch Fedotow, mit der tanzenden Zigarette zwischen |189| Zeige- und Mittelfinger, die nicht brennen wollte, drei Mal musste er sie entzünden, dann endlich konnte er den Rauch inhalieren, seine Angst betäuben. Heute ist Vaters Hand ruhig, heute glüht die Zigarette sofort auf, erlischt nicht, und wenn er zu mir spricht, über damals, als sie sich getroffen haben, er und Mutter, steigt der Rauch senkrecht an seinem Oberkörper empor und verfliegt vor seinem Gesicht in dünnen grauen Schleiern: Näher war ich diesem Gesicht noch nie. Es ist weich, offen, sympathisch. Noch immer. Aber jeder Mensch hat mehrere davon, und nicht alle sieht man im selben Moment. »Ich war fünfundzwanzig Jahre alt«, sagt er, und zum ersten Mal höre ich etwas über die Vorgeschichte meines Lebens aus
seinem
Munde: »In der letzten Zeit hatte ich bemerkt, dass ich immer verfolgt wurde. Von einem Unterleutnant. Es geht immer nach dem Rang: Ein Leutnant wird von einem Unterleutnant beschattet, ein Oberleutnant von einem Leutnant.« Dann sagt er, dass er das Vernehmungszimmer in Magdeburg nicht habe betreten dürfen, sondern nur durch einen Spion hineingucken und bestätigen musste, ob sie es sei oder nicht: »Ist sie das?«
    »Ja!«
    »Das war es«, sagt er. »Das Gespräch war beendet. Wenn ich mit ihr gesprochen hätte, hätte ich mich daran erinnert.« Ich sage, Mutter würde sich anders erinnern, und in den Akten stünde es auch. »In den Akten«, sagt Vater, »kann man wirklich alles behaupten.« Der Ton, mit dem er das sagt, ist bestimmt, energisch. So war es, heißt das, und nicht anders. Aber Mutter hat recht, denke ich, doch Vater auch: Sie
haben
nicht miteinander gesprochen, in jenem Geheimdienstkeller, damals. Mutter hat es mir erzählt, und das Protokoll hat ihre Aussage wie nun die seine bestätigt. Doch
muss
er im Raum gewesen sein, dasselbe Protokoll, das seine Antworten auf die Fragen des Vernehmungsoffiziers festgehalten hat, wurde auch von ihm unterschrieben, Seite für Seite, fast ein Dutzend Mal.
    Dann hole ich den mitgebrachten Stapel Bilder aus meinem |190| kleinen ledernen Rucksack, die Bücher, die ich ihm schenken will. Als erstes reiche ich

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