Verfehlung: Thriller (German Edition)
im Büro war? Doch sie verwarf den Gedanken sogleich wieder. Sie hatte keine Lust, sich schon wieder sein Genöle anzuhören.
Als sie zurück in das Besprechungszimmer kam, fand sie dort ihren obersten Vorgesetzten, Superintendent Liam Moore, dabei vor, wie er sich die Fotos ansah und gleichzeitig in ihren Notizen blätterte. Er koordinierte die Ermittlungen in dem Fall, was bedeutete, dass er nicht mit der aktiven Polizeiarbeit betraut war, sondern vielmehr sämtliche Spuren auswertete und auf Zusammenhänge untersuchte. Er hatte seine Zeit als Laufbursche längst hinter sich.
Moore war fünfzig Jahre alt und ehemaliger Amateurboxer; ein Schwergewichtler, mit dem es irgendwann bergab gegangen war. Sein breiter Oberkörper und seine Arme waren immer noch muskulös, aber inzwischen trug er eine
dazu passende Wampe vor sich herum, über der sich die Knöpfe seines hellblauen Hemdes spannten. Sein dunkles Haar war in den letzten Jahren ziemlich grau geworden, sodass er nun einen militärischen Bürstenschnitt bevorzugte, der ihn wie den härtesten Brocken der gesamten Polizeitruppe aussehen ließ, der er vermutlich auch war.
»Wie kommen Sie voran, Becky?«
»Mühsam. Macht einen mürbe.«
»Ja, ja. War ein langer Tag für uns alle.«
Er klappte ihr Notizbuch zu, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und lehnte sich auf dem Stuhl zurück, der unter seinem Gewicht so unheilverkündend ächzte, dass Rebecca ihre mütterlichen Instinkte unterdrücken musste – ihn beim Kragen zu packen und ihm zu sagen, er solle gerade sitzen, sonst würde er das Abendessen heute vergessen können.
»Sie sehen wirklich ganz schön erledigt aus«, sagte er. »Wie bekommt Ihnen die Arbeit?«
Es war das erste Mal, dass sie Moore etwas sagen hörte, was auch nur entfernt einer persönlichen Bemerkung ähnelte. Erstaunt blickte sie auf, öffnete den Mund, aber nur ein leiser Atemhauch drang über ihre Lippen.
»Für den ersten Tag war es reichlich aufreibend«, sagte sie schließlich.
Moore nickte. »Sie gewöhnen sich schon daran«, sagte er. »Aber leicht wird’s nie sein.«
Rebecca war sich unschlüssig, ob seine Bemerkung als Trost gemeint war oder nicht.
»Erzählen Sie mir ein bisschen was über diesen Anwalt«, wechselte Moore das Thema.
»Sie meinen Finch?«
Er nickte bedächtig – ein Anzeichen dafür, dass die kurze
Geduldsspanne, für die er berüchtigt war, sich dem Ende zuneigte.
»Nun, zu diesem Zeitpunkt kann man noch nicht viel sagen. Wir haben seine Visitenkarte am Tatort gefunden, und er hat mehr oder weniger zugegeben, mit dem Opfer eine Beziehung unterhalten zu haben, als sie beide noch auf die Universität gingen. Wir haben das in den Unterlagen nachgeprüft. Beide haben im gleichen Semester ihren Abschluss gemacht – vor zwölf Jahren. Sie waren in unterschiedlichen Fakultäten, aber wir haben für beide Listen ehemaliger Kommilitonen. Wir werden versuchen sie ausfindig zu machen, um sie zu fragen, ob sie uns noch etwas über sie erzählen können.«
»Und das Opfer war Einzelkind und Vollwaise?«
»Ja. Wir sind auf eine Tante mütterlicherseits in Pitlochcry gestoßen, aber es war niemand zu Hause, als die Kollegen sie besucht haben. Wir bleiben am Ball.«
»Ansonsten war sie ganz allein auf der Welt.« Er stellte es mehr fest, als dass er es fragte.
»Bis auf ihre Tochter«, sagte Rebecca, doch sogleich tat ihr ihre scharfe Art schon leid, da er möglicherweise noch etwas hatte sagen wollen.
Er blickte sie an. Seine Lider wirkten schwer, aber trotz des Halbdunkels im Raum konnte sie seine blauen Augen leuchten sehen. »Ja, abgesehen von Ellie.« Er schaute sie nachdenklich an. »Sie ist elf, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Und das Opfer und Finch waren vor zwölf Jahren ein Paar. Damit könnte sie fast seine Tochter sein.«
Rebecca hatte das Gefühl, als wäre ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Kinnlade heruntergeklappt. So etwas Dummes. Wieso war sie nicht von selbst darauf gekommen?
Sie war viel zu sehr mit Sharp und seinen bescheuerten Sprüchen beschäftigt gewesen, viel zu sehr bedacht darauf, sich bloß keinen Fehler zu erlauben, sodass sie das Naheliegendste übersehen hatte.
»Das würde Finch in den Mittelpunkt der Ermittlungen rücken, Sir«, sagte sie.
Damit dürfte ihr Lapsus ausgebügelt sein.
»Das würde es. Aber verschwenden wir nicht zu viel Zeit mit unbestätigten Mutmaßungen. Knöpfen Sie sich die Mitstudenten vor, sprechen Sie mit der Tante, und dann sehen wir, ob die
Weitere Kostenlose Bücher