Verfehlung: Thriller (German Edition)
ihm morgen, wenn Moore ihn damit konfrontierte, ein Schock bevor. Sie empfand etwas Mitleid mit Finch und hoffte, dass ihn Moore nicht zu sehr in die Mangel nehmen würde.
Sie trank ein Glas kalte Milch und lauschte den beiden Männern in ihrem Leben, die über ihr im Badezimmer herumplantschten. Wie würde sie damit fertigwerden, wenn einem von ihnen etwas zustieß? Der Gedanke, Tom vielleicht nie wieder zu Gesicht zu bekommen, rief kein ausgesprochenes Bedauern in ihr hervor.
Wie hatte es nur so weit kommen können?
15
20:00 Uhr
Es war nun still in der Hütte – als solche stellte Ellie sich inzwischen ihr Gefängnis vor. Vor einer Weile – allerdings vermochte sie nicht zu schätzen, wie lange das genau her war – hatte sie irgendwo im Haus ein Mobiltelefon läuten hören. Der Klingelton war irgendein alter Popsong gewesen, dessen Melodie sie schon einmal gehört hatte, aber nicht zuordnen konnte. Drake, der Anführer, hatte das Gespräch entgegengenommen. Sie hatte seine Stimme erkannt, allerdings nicht verstanden, was er sagte. Danach waren die Stimmen der beiden Männer aus dem Lieferwagen zu hören gewesen; sie hatten sich angeschrien. Später dann wurde ein Motor gestartet, und ein Auto war weggefahren, wobei die Räder einen Augenblick lang auf einem Untergrund, der sich wie Gras oder Erde anhörte, durchgedreht hatten.
Anschließend hatte Ellie wieder vor sich hin gedöst. Von der Injektion, die der Mann, der sich Drake nannte, ihr gespritzt hatte, war sie schläfrig geworden, aber das machte ihr nichts aus, denn dann spürte sie auch den Schmerz nicht mehr. Nun aber war es dunkel geworden, und die Schmerzen begannen wieder an ihr zu nagen. Heftiger Brechreiz befiel sie, und ihr wurde zunehmend unwohler zumute. Am schlimmsten taten ihre Seiten weh, dort, wo man ihr die Rippen angebrochen hatte. Die Schmerzen in ihrem Gesicht waren einigermaßen zu ertragen, solange sie sich nicht zu sehr bewegte oder es berührte. Irgendwann, nicht allzu lange nach der Spritze, hatte sie mit einer Hand
ihr Auge angefasst, um zu prüfen, wie geschwollen es war. Ein rasender Schmerz hatte sie durchzuckt. Sie würde es nicht noch einmal tun.
Mit der Dunkelheit und den Schmerzen kehrte auch die Angst zurück. Sie nahm das Foto von ihrem Dad in die Hand und bemühte sich, es so zu halten, dass sie in dem schwachen, bläulichen Licht des bleichen Mondes, das durch die Ritzen der Wände fiel, etwas von ihm erkennen konnte. Es war kaum möglich.
Sie versuchte die Umrisse seines Gesichts mit dem Finger nachzuziehen, weil sie sich davon ein wenig Trost versprach, aber alles, was sie dabei fühlte, war nur die kalte, leblose Oberfläche des Hochglanzpapiers.
Sie begann zu weinen. Sie weinte um ihre Mom und um sich selbst. Ihre arme Mom, die beste Freundin, die sie gehabt hatte. Sie bemühte sich, die Erinnerung an das, was die Männer heute früh mit ihr getan hatten, zu verdrängen, doch die Bilder und Geräusche waren so deutlich, dass es sich anfühlte, als würde sie es erneut durchleben.
Am Abend zuvor hatten sie zusammen auf der Couch gesessen, heißen Kakao getrunken und sich einen der Spiderman-Filme angeguckt. Sie liebte Actionfilme. Mit albernen Mädchenabenteuern, in denen dauernd gekichert wurde, konnte sie nichts anfangen. Sie wollte, dass Gut und Böse gegeneinander kämpften. Aber im richtigen Leben ging es nicht so zu wie bei Spiderman. Ganz und gar nicht.
Sie war glücklich schlafen gegangen, und ihre Mom hatte sich noch neben sie aufs Bett gesetzt und ihr die Decke bis zum Kinn hochgezogen.
»Ellie«, hatte sie gesagt. »Hast du eigentlich noch das Bild von deinem Dad, das ich dir mal geschenkt habe?«
Sie hatte genickt. Die Erwähnung ihres Vaters und die
Erinnerung an jenen sonnigen Sommertag 2003, als ihre Mutter zum ersten Mal von ihrem Dad gesprochen und ihr das Foto gegeben hatte, versetzte sie in freudige Erregung. Sie wusste, dass auch er damals hier in Glasgow gelebt hatte. Und nun war auch sie hier in dieser Stadt.
Ihre Mom hatte plötzlich irgendwie verändert ausgesehen. Zwischen ihren Augen hatten sich dünne Denkfalten gebildet.
»Das Bild ist hier«, hatte sie geantwortet. »In der Schublade vom Nachttisch.«
Ihre Mom hatte gezögert und dann die Schublade des kleinen Schränkchens neben ihrem Bett aufgezogen. Sie schob die Hand hinein, und man konnte hören, wie ihre Finger das Foto berührten. So war ihre Mom eine ganze Weile lang sitzen geblieben, hatte das Bild betrachtet und
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