Verfehlung: Thriller (German Edition)
mit der Hand darübergestrichen. Es war, als hätte sie ganz vergessen, dass Ellie auch noch da war.
»Was ist denn, Mom?«
Ihre Mutter hatte die Nase hochgezogen und sich übers Gesicht gewischt. Als sie Ellie danach ansah, glänzten ihre Augen feucht in dem warmen Lichtschimmer der Nachttischlampe.
»Was würdest du davon halten, wenn wir deinen Dad besuchten?«
Im ersten Moment war sie sprachlos gewesen, hatte vor Aufregung eine komische Leichtigkeit in ihrem Kopf und ihren plötzlich unruhigen Magen gespürt. Dann hatte sie sich aufgesetzt und ihre Mutter so fest umarmt, wie sie konnte.
»Können wir? O ja, bitte, Mom, bitte.«
»Aber ich muss erst mit ihm darüber sprechen, verstehst du, Schatz? Ich habe ihn eine ganze Weile nicht gesehen,
und wir ... nun, wir können nicht einfach so bei ihm aufkreuzen. Aber ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht, und deswegen wollte ich auch, dass wir hierher ziehen, nach Glasgow. Deshalb habe ich dieses Haus gekauft. Ich wünsche mir so, dass es für uns beide ein Zuhause wird.«
Ellie hatte zu weinen angefangen. Salzige Tränen waren ihr über die Wangen gekullert, und ihr ganzer Körper hatte gebebt, als sie sich so fest an ihre Mutter drückte, dass sie kaum noch Luft bekam.
»Können wir dann vielleicht eine richtige Familie sein?«, hatte sie gefragt.
»Ich weiß noch nicht, Ellie. Lass uns einfach sehen, wie sich alles entwickelt, okay?«
»Aber er wird mich doch treffen wollen, oder? Bestimmt wird er das. Er muss einfach wollen.«
Ellie hatte bemerkt, dass die Tränen ihrer Mom sich mit den ihren zu vermischen begannen, während sie zusammen am letzten Abend im Leben ihrer Mutter auf dem Bett saßen.
Viel, viel später.
Es ist dunkel. Sie hört ein Krachen und einen Schrei. Sie hat Angst.
»Mom!«, ruft sie.
Keine Antwort.
»Mom!« Dieses Mal ist es fast ein Schrei. »Mom? Wo bist du?«
Die Tür wird grob aufgestoßen, kracht gegen die Wand und erschüttert das ganze Zimmer. Sie schreit laut auf, als sie den Mann sieht, verkriecht sich am Kopfende ihres Bettes und zieht sich die Decke über das Gesicht.
Immer noch Lärm im Flur.
»Ellie!«
Die Stimme ihrer Mutter, die anders klingt als je zuvor.
Und dann ein furchtbares Geräusch, ein Geräusch, das niemand in ihrem Alter hören sollte – das Splittern von Knochen unter der Haut, warmes, rotes Leben, das auf den Fußboden spritzt.
Ellies Stimme wird zu einem schrillen Kreischen. Kein Wort kommt über ihre Lippen, nur dieses grelle Schreien. Es ist, als würde ein Stück von ihrem Herzen aus ihrem Körper gerissen.
»Mooom!«
Dann fällt der Mann in ihrem Zimmer über sie her und schlägt wie ein Wahnsinniger auf sie ein.
Ellie saß kerzengerade auf dem Bett. Sie weinte hemmungslos und trat mit den Füßen gegen die Hüttenwand.
Drake kam in den Raum, drückte sie aufs Bett zurück, hielt ihre Arme fest.
»Du musst ruhig sein, sonst bin ich nicht mehr nett zu dir.«
Sie wusste, dass sie besser tun sollte, was er sagte, aber ihre Angst und die Wut überwältigten sie.
»Du hast meine Mom umgebracht!«, schrie sie ihn an, und ihr Speichel sprühte ihm ins Gesicht. »Du hast sie getötet!«
Drake drückte leicht auf ihre angebrochenen Rippen auf ihrer rechten Seite. Der jähe Schmerz brachte sie augenblicklich zum Verstummen. Ihr Atem rasselte, als sie durch zusammengebissene Zähne Luft einsog. Eine volle Minute lang blieb er sitzen und presste die Hand gegen ihren Oberkörper.
Ellie kniff die Augen zu und versuchte sich ihre Mutter vorzustellen, etwas zu finden, woran sie sich klammern konnte, aber es gelang ihr nicht. Kurz bevor sie in eine schwarze Bewusstlosigkeit versank, erschien eine Sekunde lang ein strahlend helles Bild vor ihren Augen. Sie schrie ein Wort, dann übermannte sie der Schmerz.
Als Drake merkte, dass sie ohnmächtig war, ließ er sie los und erhob sich vom Bett. Er fühlte ihren Pulsschlag. Schwach, aber regelmäßig. Gut. Nachdem ihre Mutter tot war, hatten sie außer dem Mädchen nichts mehr in der Hand, und das bedeutete, dass sie gut auf die Kleine aufpassen mussten, solange sie sie noch brauchten.
Er verließ das Zimmer und schloss die Tür ab.
Die Frau, die Ellies Essen zubereitet hatte, fragte, ob alles in Ordnung sei.
»Ja«, sagte er. »Sie hat nach ihm gerufen.«
»Nach wem?«
»Sie hat ›Dad‹ gesagt.«
»Das ist doch schrecklich«, sagte die Frau. »Warum hat dieser Idiot Vasiliy ihre Mutter umbringen müssen? Niemand hat
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