Verfehlung: Thriller (German Edition)
setzte sich dann auf den Sessel neben dem, den Stella okkupiert hatte. Als er ihren Kopf streichelte, gab sie eine Mischung aus Grollen und Schnurren – fast ein Gurren – von sich.
»Sieht aus, als hätte jemand was angestellt«, sagte er zu der desinteressierten Katze.
2
05:15 Uhr
»Haltbloßdiefresse.«
So hörte es sich für sie an. Wie ein einziges Wort. Sie wollte durchatmen, verschluckte sich aber dabei, und ein weiterer Schluchzer entrang sich ihrer Kehle.
»Maul halten, oder ich verpass dir noch eine.«
Er sprach mit einem starken Akzent, trotzdem hatte sie keine Ahnung, woher er stammte – jedenfalls aus keiner der Gegenden, die sie mit ihrer Mutter besucht hatte. Noch einmal setzte sie an, um tief Luft zu holen, musste sich aber von dem Gestank nach Schweiß und Blut in dem Lieferwagen beinahe erbrechen.
Sie haben meine Mom ermordet.
Sie kniff die Augen fest zusammen, um die Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen – die Erinnerung an das scheußliche Geräusch, das zu hören war, als sie immer wieder auf ihre Mom einschlugen und dabei Blut auf den Boden spritzte. Sie ist tot, dachte sie. Zwar hatte sie noch nie zuvor eine Tote gesehen, aber das musste ja nicht heißen, dass sie sich irrte.
Sie haben meine Mom ermordet.
Als der Lieferwagen ein Schlagloch in der Straße erwischte, spürte sie den Stoß schmerzhaft in ihren gebrochenen Rippen. Ihre linke Gesichtshälfte war geschwollen, und das taube Gefühl in ihrer Wange und um ihr Auge herum wich nun einem dumpfen, pochenden Schmerz. Die Schwellung wurde von Minute zu Minute größer. Wenn das so weiterging, würde ihr linkes Auge bald vollständig zugeschwollen sein.
Sie haben meine Mom ermordet.
Sie hielt die Augen geschlossen und versuchte sich einzureden, dass alles vielleicht doch noch gut werden würde, dass ihre Mom bloß verletzt war – so wie sie selbst. Schon bald würde es ihr wieder besser gehen, die Polizei würde die Männer fassen, und dann wäre alles wieder normal – oder eben so normal, wie ihr Nomadendasein bisher für sie gewesen war.
»Ich mag Glasgow nicht«, hatte sie ihrer Mom gesagt, als sie damals aus dem Flughafengebäude in den grauen Nieselregen hinausgetreten waren.
»Das ist mein Zuhause«, hatte ihre Mom erwidert. »Hier bin ich geboren worden. Es wird dir schon gefallen, sobald du es erst richtig kennenlernst, Ellie. Davon bin ich überzeugt.«
Seitdem hatte sie oft geweint. Ihr fehlten ihre alten Freunde aus Hongkong. Sie vermisste die Wärme. Und jetzt war sie auch noch allein.
Von den Schmerzen verlor sie das Bewusstsein.
Zeit verging.
Als sie wieder zu sich kam, tat ihr Kopf bei jeder Bewegung weh; die Schwellung fühlte sich an, als hätte sich ein Teil ihres Gesichts zu seiner fünffachen Größe ausgedehnt. Sie hörte, wie einer der Männer vorn im Wagen, der Fahrer, in einer ihr fremden Sprache etwas in ein Mobiltelefon sagte. Als er das Gespräch beendet hatte, warf er das Handy seinem Beifahrer zu, und beide begannen in derselben fremden Sprache laut zu streiten. Manchmal verfielen sie dabei kurz ins Englische, aber sie verstand nicht genug, um dem Streit folgen zu können. Für sie schien es, als wäre der Fahrer, der kleinere und dickere der beiden, aus irgendeinem Grund wütend auf den anderen.
Der größere der zwei drehte sich zu ihr um und legte dabei die Hände auf die Sitzlehne. An seinen Fingern war das Blut ihrer Mutter inzwischen getrocknet und hatte eine krustige Schicht gebildet. Der Mann war derjenige, der ihre Mom zum Schreien gebracht und gewürgt hatte, und sie hasste ihn mehr, als sie je zuvor einen Menschen gehasst hatte. Er merkte, wie sie auf seine Hände starrte, und gestikulierte damit in ihre Richtung. Der Fahrer versetzte ihm einen heftigen Stoß gegen den Arm und sagte wieder etwas in der fremden Sprache. Daraufhin wandte sich der andere von ihr ab, und sie war froh, das Blut ihrer Mom nicht länger sehen zu müssen.
Die beiden Männer verfielen in Schweigen, und nach einer Weile merkte sie, dass sie etwas in ihrer rechten Hand zusammengedrückt hielt. Sie öffnete die Faust und berührte das glänzende Papier des Fotos mit den Fingern ihrer linken Hand.
Dad.
Es war das Bild ihres Vaters, das ihre Mutter ihr geschenkt hatte, als sie sechs Jahre alt geworden war. Das war nun schon fast sechs lange Jahre her – aber jetzt hatte sich ihr Leben an einem einzigen Tag mehr verändert als in den ganzen sechs Jahren. Das Foto hatte immer auf dem Tisch neben ihrem
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