Verflixtes Blau!
eventuell aus dem Fenster stoßen zu können, als es einen ohrenbetäubenden Knall tat und er sich in seine Bestandteile auflöste– die Elemente, aus denen sich der Farbenmann zusammensetzen mochte, kehrten in ihren Urzustand zurück: ob Salz oder Stein oder Metall oder Gas. Das schwarze Messer fiel auf den Teppich, zusammen mit den Kleidern, zwischen kunterbunten Sandkörnern. Der Wasseranteil des Farbenmannes ging in einen gasförmigen Zustand über, und das erhöhte Volumen hatte den Knall ausgelöst.
Juliette kam aus der Hocke hoch und trat mit der Schuhspitze in den kleinen Sandhaufen, der einst der Kopf des Farbenmannes gewesen war. » Na, das war mal was Neues«, sagte sie.
Toulouse-Lautrec hatte sein Schnapsglas wieder weggesteckt und starrte die Stelle an, wo bis eben noch sein alter Feind gestanden hatte. Carmen machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment einen Nervenzusammenbruch erleiden, und keuchte, als sammelte sie Kraft für einen markerschütternden Schrei.
Juliette trat mit dem Zeh in den Haufen, der einst der Torso des Farbenmannes gewesen war, dann wich sie zurück.
» Jetzt die Hose«, sagte Henri.
» Das könnte ihm so passen«, sagte Juliette, und doch stieß sie mit dem Schuh an seine Hose und grinste Henri an.
Das war der Moment, in dem Carmen losheulte wie eine Sirene, wobei sie die Augen verdrehte, bis nur noch das Weiß des Wahnsinns zu sehen war. Allerdings bekam sie kaum eine Achtelnote des Entsetzens heraus, da war Bleu schon wieder in sie hineingesprungen.
Carmens Augen rollten wieder zurück, sie holte tief Luft, dann setzte sie dasselbe Lächeln auf, das eben noch Juliette gelächelt hatte. » Das war mal was Neues«, sagte Carmen.
» Das sagtest du bereits«, erwiderte Henri. » Ich meine, sie hat es gesagt.« Er nickte zu Juliette hin, die nur noch eine leere, hübsche Puppe im zerrissenen Kleid war und auf einem Häufchen aus Sand und Kleidern stand.
» Das stimmt ja auch, Henri. Jetzt ist alles anders.« Sie nahm ihn bei den Ohren und küsste ihn keusch. » Lieber, tapferer Henri, begreifst du denn nicht? Diesmal ist er wirklich weg– endgültig.«
» Wieso das? Er war auch vorher schon mal ein Häufchen Asche. Wieso ist das jetzt was anderes?«
» Weil ich ihn nicht mehr spüre.«
» Als wir das letzte Mal dachten, er sei tot, hast du ihn auch schon nicht gespürt.«
» Aber jetzt spüre ich die Gegenwart eines anderen. Ich spüre mein Ein und Alles; meinen Lucien. Er hat uns gerettet, Henri. Ich weiß nicht, was er gemacht hat, aber ich spüre ihn, als wäre er ein Teil von mir.«
Toulouse-Lautrec betrachtete ihre Hände, ihre rauen, roten Wäscherinnenhände, und nickte. » Ich nehme an, die Zeiten, in denen Carmen mir Modell saß, sind vorüber?«
Der Rotschopf streichelte ihm über die Wange. » Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich an das hier erinnert. Sie würde daran zerbrechen. Aber sie wird immer wissen, dass sie schön ist, weil du die Schönheit in ihr gesehen hast. Ohne deinen Blick, ohne deine Liebe hätte sie es nie erfahren. Deinetwegen bleibt es ihr für immer erhalten.«
» Du hast ihr das gegeben. Du bist die Schönheit.«
» Das ist das Geheimnis, Henri. Ich bin nichts ohne Material, Geschick, Vorstellungskraft, Gefühle, die du einbringst, die Carmen einbringt. Du erschaffst Schönheit. Ich bin nur ein Geist. Ohne den Künstler bin ich ein Nichts.« Sie griff in ihre– in Carmens– Tasche, holte einen irdenen Topf von der Größe eines Granatapfels hervor und löste den Korken. Darin war das Sacré Bleu, das reine Pulver. Sie schüttete ein wenig, vielleicht einen demitasse -Löffelvoll, auf ihre Handfläche.
» Gib mir deine Hand«, sagte sie.
Er hielt sie ihr hin, und sie verrieb das Pulver darauf, bis beide Hände leuchtend blau eingefärbt waren.
» Carmen ist Rechtshänderin, stimmt’s?«
» Ja«, sagte Henri.
Mit ihrer ungefärbten Hand knöpfte sie die Bluse auf. » Was ich dir eben erzählt habe, dass ich ohne den Künstler ein Nichts bin, bleibt unser Geheimnis, hörst du?«
Er nickte. » Aber natürlich.«
» Gut, jetzt leg deine Hand mit dem Blau auf meine Brust und verreibe es so lange, wie du kannst.«
Er tat wie ihm geheißen, wobei er eher verwundert als vergnügt aussah. » So lange, wie ich kann?«
» Ich hoffe, es bereitet dir nicht allzu große Schmerzen, mein lieber Henri«, sagte sie und sprang zu Juliette.
Carmen Gaudin bemerkte einen seltsamen, kleinen Mann mit einer Melone und einem pince-nez,
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