Verflixtes Blau!
Stock in beiden Händen, wie flehend. » Verzeiht, Mademoiselle. Ich möchte Euch nicht belästigen, aber ich bin Maler. Henri Toulouse-Lautrec ist mein Name. Und ich… ich…«
» Ja?«, sagte sie mit gesenktem Blick, sah ihm nicht in die Augen.
» Verzeiht mir, Mademoiselle, aber Ihr seid… Ihr seid atemberaubend. Wie Ihr ausseht, ich meine… ich muss Euch malen. Ich werde Euch bezahlen, um mir Modell zu sitzen.«
» Monsieur, ich bin kein Modell.« Eine leise Stimme, scheu.
» Bitte, Mademoiselle. Ich versichere Euch, ich hege gewiss keine üblen Absichten. Ich bin Künstler von Beruf. Ich bezahle gut. Mehr als die Wäscherei. Und ich werde in jedem Falle respektieren, dass Ihr noch einer anderen Beschäftigung nachgeht.«
Da lächelte sie, geschmeichelt vielleicht. » Ich bin noch nie gemalt worden. Was muss man da machen?«
» Dann werdet Ihr für mich posieren? Himmlisch! Einfach himmlisch!« Er reichte ihr seine Visitenkarte mit der Adresse seines Ateliers sowie seinem Namen und Titel, geprägt unter dem Familienwappen.
» Herrje«, sagte sie. » Ein Graf?«
» Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Henri. » Kommt morgen nach der Arbeit in mein Atelier. Macht Euch keine Gedanken um das Abendessen. Ich kümmere mich darum. Kommt einfach so, wie Ihr seid.«
» Aber, Monsieur…« Sie deutete auf ihre Arbeitskleidung, schlicht, schwarz und weiß. » Ich habe ein hübsches Kleid. Ein blaues Kleid. Ich kann…«
» Nein, meine Liebe. Kommt einfach so, wie Ihr seid. Bitte.«
Sie verbarg die Karte in ihrem Rock. » Ich werde da sein. Nach vier.«
» Mein Dank, Mademoiselle. Dann sehen wir uns morgen. Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet. Ich muss zurück zu meinen Freunden. Guten Tag.«
» Guten Tag«, sagte das Mädchen.
Toulouse-Lautrec wandte sich ab, doch dann fiel ihm noch etwas ein. » Oh, Mademoiselle, Verzeihung: Wie heißt Ihr?«
» Carmen«, sagte sie. » Carmen Gaudin.«
» Dann auf morgen, Mademoiselle Gaudin.« Und schon war er durch die Tür des Cafés verschwunden.
Carmen ging über den Place Pigalle in Richtung Montmartre, dann nahm sie eine der engen Gassen, die sie zur Rue Abbesses und den Hügel hinaufführen würde. Auf der Hälfte der Gasse stand ein Zuhälter, der eben den Abend einläutete und eine Zigarette rauchend an einem baufälligen Schuppen lehnte. Hinter dem Schuppen war ein Grunzen zu hören, vielleicht von einer der Huren des Zuhälters, die einen frühen Freier im Stehen bediente.
Der Zuhälter trat Carmen in den Weg. » Ach, wie süß bist du«, sagte er. » Suchst du Arbeit, kleines Dummchen?«
» Bin auf dem Heimweg«, sagte sie, ohne aufzublicken.
Der Zuhälter nahm sie beim Kinn, blies ihr Rauch ins Gesicht, während er sie taxierte. » Du bist hübsch, aber nicht mehr lange, was? Vielleicht solltest du die Arbeit nehmen, solange dich noch jemand will?« Er griff fester zu, kniff sie grob in die Wangen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
» Seid Ihr ein Maler?«, fragte sie mit leiser Stimme, scheu.
» Nein, kein Maler. Ich bin dein neuer Herr«, sagte der Zuhälter.
» Tja, dann kann ich mit Euch nichts anfangen«, erwiderte sie.
Sie schlug seine Hand beiseite und packte ihn bei der Kehle, grub ihre Finger ins Fleisch um seine Luftröhre, dann knallte sie ihn gegen die Mauer, als wäre er eine Puppe, brach ihm den Schädel. Als er von der Mauer abprallte, riss sie ihn rücklings über ihr angewinkeltes Knie, und seine Wirbelsäule brach wie ein Zweig. Es hatte kaum eine Sekunde gedauert. Sie ließ ihn auf das Pflaster fallen, und wie ein feuchter, lebloser Furz entwich der letzte Atemzug aus ihm.
» Nicht das Geringste«, sagte sie leise, ernst. Sie setzte ihren Weg fort, die Gasse entlang, und stieg schon den Hügel hinauf, als sie die Hure schreien hörte.
Régine sah, wie ihr Bruder einem sehr hübschen, dunkelhaarigen Mädchen im blauen Kleid die Tür der Bäckerei aufhielt. Seltsam, dachte sie. Lucien bringt seine Mädchen doch nie mit in die Bäckerei.
» Juliette, das ist meine Schwester Régine«, sagte Lucien. » Régine, das ist Juliette. Sie wird mir Modell sitzen.«
» Enchanté«, sagte Juliette mit einem leichten Knicks.
Lucien führte Juliette um den Tresen herum ins Hinterzimmer. » Wir sehen uns mal den Schuppen auf dem Hof an.«
Régine sagte nichts. Sie sah, wie ihr Bruder den Schlüsselring von der Wand nahm und dann das hübsche Mädchen durch die Hintertür der Bäckerei auf den kleinen, von Unkraut überwucherten
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