Verflixtes Blau!
Hof hinausführte. Da wuchs auch in ihrem Herzen ein Pentimento heran, von einem anderen hübschen Mädchen, das zum Lagerschuppen geführt wurde und das sie kaum zu Gesicht bekommen hatte. Rückwärts wich sie zur Treppe zurück und nahm immer zwei Stufen auf einmal, als sie hinauf in die Wohnung rannte.
Lucien riss die abgewetzte Brettertür auf und gab den Blick auf einen langen, offenen, weiß getünchten Raum frei, in den durch ein großes Oberlicht die Sonne schien. Teilchen von Staub oder vielleicht auch Mehl jagten einander im Sonnenlicht wie ein Mahlstrom kleiner Feen. Säcke mit Mehl und Zucker waren bei der Tür gestapelt. Ganz hinten stand eine alte, unbenutzte Staffelei.
» Mein Vater hat das Oberlicht eingebaut«, sagte Lucien. » Und hier hast du reichlich Platz, um mir Modell zu sitzen.«
Juliette teilte die Begeisterung, drückte seinen Arm und küsste sein Ohr. » Es ist perfekt. Lichtdurchflutet und ungestört. Du kannst mich in derselben Pose malen wie das Mädchen auf diesem Manet, den du mir gezeigt hast.«
» Olympia«, sagte Lucien. » Ein Meisterwerk, aber du bist viel hübscher als Manets Modell Victorine. Er hat sie auch für sein Frühstück im Grünen verwendet. Beides Meisterwerke. Monet und Degas wollen den Staat dazu bewegen, Madame Manet die Bilder für den Louvre abzukaufen. Hätte Manet ein Modell wie dich gehabt, würde Frankreich in den Krieg ziehen, um die Gemälde zu besitzen, das kannst du mir glauben.«
Spielerisch boxte sie ihm gegen den Arm. » Ich glaube, es liegt am Maler, nicht am Modell. Willst du ein Meisterwerk von mir malen? Soll ich mich ausziehen?«
Es schien Lucien, als wäre es im Schuppen auf einmal viel zu warm, und sein Kragen wurde ihm eng. » Nein, Liebste, heute können wir noch nicht anfangen. Ich muss erst diese Vorräte rausschaffen und durchfegen. Meine Farben und die Staffelei sind noch im anderen Atelier. Ich muss die Chaiselongue aus der Wohnung heruntertragen, damit du es bequem hast.«
» Werden wir es auch beide darauf bequem haben?«
» Ich… wir… ich kann morgen anfangen. Wärst du am Nachmittag bereit?«
» Ich bin jetzt bereit«, sagte sie. Sie beugte sich vor, um ihn zu küssen. Er wich zurück, um es zu verhindern. Nirgends wollte er lieber sein als in ihren Armen, doch nicht jetzt, in der Tür zum Vorratsschuppen, zumal er Schritte aus der Bäckerei kommen hörte.
» Wir müssen gehen«, sagte er, nahm sie bei der Hand, zog sie aus der Tür und schloss ab. Als er den Schlüssel drehte, sagte er: » Es gibt da einen schmalen Gang zwischen den Häusern und dem Platz. Den benutzen nur die kleinen Jungen, aber im Zweifel ist er breit genug.«
Als sie wieder in die Bäckerei kamen, stand Mère Lessard beim Brotregal, die Arme vor dem Busen verschränkt, den Unterkiefer weit vorgeschoben, damit sie ihren Sohn an ihrer Nase entlang ins Visier nehmen konnte.
» Maman!«, sagte Lucien.
» Du hast deine Schwester zum Weinen gebracht«, sagte Mère Lessard. » Sie ist oben und heult, als hättest du sie geohrfeigt.«
» Ich habe sie nicht geohrfeigt.«
» Eine erwachsene, verheiratete Frau, die heult wie ein kleines Mädchen. Ich hoffe, du bist stolz auf dich.«
» Ich habe nichts getan, Maman. Ich werde mit ihr sprechen.« Dann fing er sich, schüttelte die prickelnde Lust ab, die er eben noch empfunden hatte, und stürmte gegen den Vorwurf seiner Mutter an. » Das ist Juliette. Sie wird mir Modell sitzen, und ich brauche den Schuppen als Atelier.«
» Enchanté, Madame Lessard«, sagte Juliette, wiederum mit einem leichten Hofknicks.
Madame Lessard schwieg einen Moment, zog nur eine Augenbraue hoch und musterte Juliette, bis Lucien sich räusperte.
» Ist das die Juliette, die dir das Herz gebrochen und dich in die Trunkenheit getrieben hat? Jene Juliette, die dich und uns fast umgebracht hätte, weil wir deine Arbeit mit erledigen mussten? Jene Juliette?«
Lucien hatte die Idee, Juliette am helllichten Tag durch die Bäckerei zu führen, nicht zu Ende gedacht, weil er es kaum erwarten konnte, den Sonnenschein auf ihrem nackten Leib zu sehen.
» Ebenjene«, sagte Juliette und trat vor. » Aber ich habe mich geändert.«
Lucien nickte heftig, um zu versichern, dass sie sich geändert hatte, obwohl er nicht recht wusste, inwiefern.
» Lucien ist jetzt mein Ein und Alles«, sagte Juliette. Sie zog Lucien an seiner Krawatte zu sich herab und küsste ihn auf die Wange.
Aus unerfindlichem Grund dachte Lucien an die Kreuzigung,
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