Verflixtes Blau!
Farbenmann erst nach Arles gefolgt war, dann nördlich nach Auvers, konnte es dann Zufall sein, dass er wenige Tage nach Vincents Tod in Paris auftauchte? Bis sie sich draußen vor dem Rat Mort begegnet waren, hatte Henri Vincents sonderbaren Brief völlig vergessen und auch, überhaupt schon mal vom Farbenmann gehört zu haben. Und doch war er ihm irgendwie bekannt vorgekommen. Vielleicht durch Vincents Beschreibung. Henri trank seinen Cognac, dann schenkte er sich nach. Er faltete den Brief und legte ihn wieder in die Schublade, nahm einen Stift und schrieb:
Meine liebe Mama,
die Umstände haben sich geändert, und wie sich herausstellt, kann ich Dich nun doch im Château Malromé besuchen. Obschon ich endlich in der Lage war, einige Modelle zu finden, was für einen Maler ungemein beruhigend ist, allesamt sehr anständige, junge Damen, bin ich doch überreizt, nicht durch meine Arbeit, sondern durch persönliche Umstände. Ich habe kürzlich einen Freund verloren, Monsieur Vincent van Gogh, einen Holländer, der unserer Künstlergruppe angehörte. Vielleicht erinnerst Du Dich, dass ich von ihm erzählt habe. Sein Bruder stellt meine Bilder in seiner Galerie aus, was mir schon sehr geholfen hat. Vincent erlag einer langen Krankheit, und sein Verlust lastet schwer auf meinem Herzen und – wie ich fürchte – auf meiner Konstitution.
Ich brauche nicht so sehr eine Pause von der Arbeit, da diese gut gelingt, sondern eine Pause von der Stadt, vom Alltag. Ich werde nicht länger als einen Monat bleiben, da ich vor dem Herbst wieder in Paris sein muss, um die Ausstellung meiner Bilder mit den Zwanzig in Brüssel vorzubereiten. Ich freue mich darauf, frische Luft zu atmen und die Nachmittage mit Dir und Tante Cécile zu verbringen. Gib ihr einen Kuss von mir, und für Dich – wie immer – ganz viele liebe Küsse.
Dein Henri
Ein Monat würde vielleicht genügen. Wie dem auch sei, in Paris konnte er jedenfalls nicht bleiben. Langsam begriff er, welches Bild in ihm heranwuchs, das Pentimento in seinem Herzen, nachdem er zuerst Luciens Juliette gesehen hatte und kurz darauf den kleinen Farbenmann. Es war Carmen. Nicht ihre Anmut, ihre sanfte Stimme, ihre Berührung, es war etwas anderes, etwas Düsteres, das er nicht wiedersehen wollte, denn er wusste, er würde es nie mehr vertreiben können.
Jetzt ein Bad, dann zurück zum Moulin Rouge, Jane Avril tanzen sehen, La Goulue, das Clownsweib, singen hören, und anschließend wollte er die Grüne Fee in einem der gastfreundlichen Bordelle reiten und dort umnebelt verweilen, bis sein Zug ging, der ihn zur Burg seiner Mutter auf dem Lande bringen sollte.
Henri war ihr fünf Jahre zuvor begegnet, auf dem Weg zu einem späten Mittagessen mit Lucien, Émile Bernard und Lucien Pissarro, dem Sohn von Camille. Sie alle waren junge Künstler, überzeugt von sich, von ihrem Talent und den unendlichen Möglichkeiten der Resultate, wenn sich Phantasie mit Handwerk paarte. Sie hatten den Tag in Cormons Atelier verbracht, dem Lehrer gelauscht, der über die akademische Tradition und die Techniken der alten Meister schwafelte. Mitten in seinem Vortrag über die Atmosphäre im Raum und wie man– am Beispiel der Helldunkelmalerei des italienischen Meisters Caravaggio– das Spiel von Licht und Schatten schafft, hatte Émile Bernard auf seiner Leinwand dicke, rote Streifen gemalt. Seine Freunde hatten gelacht, und sie wurden allesamt des Unterrichts verwiesen.
Sie beschlossen, ins Café Nouvelle Athène an der Rue Pigalle einzukehren. Toulouse-Lautrec zahlte für eine Pferdedroschke, die sie den Hügel hinunterbrachte und aus der sie, vor dem Café angekommen, lachend herausstolperten. Kaum einen Block entfernt kam eine junge, rothaarige Frau eben von der Arbeit in einer Wäscherei, die Haare zu einem Dutt gebunden, der sich in Auflösung befand, die Hände und Arme rosig.
» Seht sie euch an!«, sagte Toulouse-Lautrec. » Wie umwerfend roh sie ist!« Er breitete die Arme aus, um seine Freunde aufzuhalten. » Bleibt zurück! Sie gehört mir! Ich muss sie malen!«
» Sie gehört dir«, sagte Bernard, dieses Milchgesicht, an dessen Kinn kaum ein Barthaar wuchs. Wie frischer Schimmel auf Käse, hatte Henri gespottet. » Wir warten drinnen auf dich.«
Toulouse-Lautrec winkte ihnen und rief der Rothaarigen, die zum Hügel lief, hinterher: » Pardon! Mademoiselle? Pardon!«
Sie blieb stehen, wandte sich um, schien überrascht, dass jemand sie rief.
Henri näherte sich ihr mit seinem
Weitere Kostenlose Bücher