Verflixtes Blau!
viel abverlangt?«
» Penis«, erklärte der Farbenmann schulterzuckend.
» Ah, verstehe«, sagte Henri. » Meine weigert sich, die Fenster zu putzen. Nein, Mademoiselle Gaudin war von Beruf Wäscherin. Ein Rotschopf. Vielleicht erinnern Sie sich?«
Der Farbenmann lüftete seine Melone und kratzte sich am Kopf, als versuchte er, eine Erinnerung wachzurufen. » Sicher, gut möglich. Die rothaarige Wäscherin. Ja, ich hab mich gewundert, woher sie das Geld für Farben hatte.«
Darüber hatte sich Henri damals allerdings auch gewundert, als sie ihm die Farben schenkte. » Für unsere Bilder«, hatte sie gesagt.
» Wissen Sie, wo sie jetzt ist?«, fragte Henri. » Früher arbeitete sie in der Wäscherei beim Place Pigalle, aber dort hat man sie lange nicht gesehen.«
» Sie hieß Carmen, oder?«
» Ja, Carmen Gaudin.«
» Sie wurde sehr krank. Gut möglich, dass sie gestorben ist.«
Henri spürte einen Stich in seinem Herzen. Er hatte nicht vorgehabt, nach ihr zu fragen. Er dachte, er hätte sie vergessen. Doch er spürte den Verlust, in diesem Moment, als er die Worte des Farbenmannes hörte.
Der Farbenmann setzte seinen Hut wieder auf. » Sie hatte eine Schwester im dritten Arrondissement, nicht weit von Les Halles, glaube ich. Vielleicht ist sie zum Sterben dorthin gegangen, wer weiß?«
» Vielleicht. Wie viel wollen Sie für die Farben?«, fragte Henri. Er nahm die Tuben und legte sie in seinen Kasten, dann zahlte er dem Händler, was dieser verlangte.
Der Farbenmann steckte die Scheine ein. » Ich denke, ich werde demnächst mehr Blau herstellen, falls es Euch ausgehen sollte. Ich werde Euch im Atelier aufsuchen.«
» Danke, ich ziehe es vor, in meinem Atelier ungestört zu bleiben. Ich komme zu Ihnen, nachdem ich ja nun weiß, wo Sie wohnen«, sagte Henri.
» Ich bin viel unterwegs«, erwiderte der Farbenmann.
» Tatsächlich? Waren Sie schon mal in Auvers-sur-Oise?« Aha!, dachte Henri. Jetzt hab ich dich.
» Auvers?« Der Hut wurde abgesetzt, weiteres Kopfkratzen, die Suche nach Antwort beim Betrachten der oberen Etagen des Gebäudes. » Nein, Monsieur. Wieso fragt Ihr?«
» Ein Freund schrieb mir einen Brief von dort und sagte, er habe Ölfarben von jemandem gekauft, der aussah wie Sie. Er war Holländer, lebt nicht mehr, leider.«
» Ich kenne keinen Holländer. Ich mache keine Geschäfte mit beschissenen Holländern. Scheißholländer mit ihrem holländischen Licht. Nein. Ich muss gehen.« Der Farbenmann klappte seinen Koffer zu, dann schnallte er ihn auf den Rücken und machte sich auf den Weg die Straße hinunter.
» Adieu«, rief Henri ihm nach.
» Scheißholländer«, knurrte der Farbenmann, als er seinen Koffer um die Ecke schleppte.
Carmen war zu ihrer Schwester ins 3. Arrondissement gezogen? Wenn er eine Droschke nahm, konnte Henri in einer halben Stunde dort sein. Das brauchte niemand zu erfahren.
Aber erst musste er herausfinden, was es mit dieser Farbe auf sich hatte.
11
Camera obscura
London 1890
W ährend Henri den Tag damit verbracht hatte, hinter das Geheimnis des Farbenmannes zu kommen, verbrachte Lucien eine Woche in London, sah sich Kunst an und poppte Juliette in jedem Winkel in Kensington.
» Wenn man nach nur einer Nacht, ohne zu bezahlen, aus dem Hotel verschwindet, rufen sie nicht mal die Polizei«, hatte Juliette gesagt.
» Aber sollten wir dann nicht das Viertel wechseln?« Lucien hatte noch nicht oft in Hotels gewohnt und war noch nie jemandem etwas schuldig geblieben.
» Ich mag die Gegend um den Hyde Park«, sagte Juliette. » Jetzt komm ins Bett.«
Auf seiner ersten Reise nach London war für ihn manches neu. Nicht zuletzt wurde ihm erstmals bewusst, dass Frankreich und England miteinander Krieg führten, seit– nun– seit sie getrennte Länder waren. Draußen vor der National Gallery am Trafalgar Square sah er sich die große Säule an, die für Admiral Nelson errichtet worden war, zu Ehren seines Sieges über Napoleons Flotte (und die spanische) in Trafalgar. Der Maler Courbet musste ins Exil, weil er dafür eintrat, Napoleons Version der Säule draußen vor dem Louvre niederzureißen (angeblich auf Betreiben seiner irischen Geliebten Jo).
» Courbet war ein Penner«, sagte Juliette. » Gehen wir uns die Bilder ansehen.«
Lucien fragte nicht, woher sie gewusst hatte, dass er an Courbet dachte, sondern unterwarf sich einfach ihrem Willen. Schon hatten sie den Kuppelsaal hinter sich, und Juliette hastete voraus, stürmte an Meisterwerken vorbei wie
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