Verflixtes Blau!
an leprösen Bettlern, bis sie schließlich vor Velázquez’ Venus stehen blieben.
Diese lag auf einer Chaiselongue und wandte ihnen den Rücken zu, die Haut von pfirsichweichem Weiß, und wenn Henri auch recht haben mochte, war ihr Hintern doch nicht ganz so hübsch wie Juliettes. Sie war eine Schönheit, das stimmte wohl, und weil sie in einem Spiegel, den ein Engel für sie hielt, zusah, wie man sie anschaute, empfand man doch ein leises Schamgefühl, weil man als Voyeur dastand. Doch sie wirkte nicht verächtlich, stellte den Betrachter nicht bloß, wie Manets Olympia es tat. Sie war auch nicht kokett wie Goyas Maja. Sie sah nur dabei zu, wie man sie ansah, oder besser: das spektakulärste Hinterteil der Kunstgeschichte. Doch bei allen korrekten Proportionen, der Nuancierung und selbst dem Licht auf ihrer Haut, auf ihrem Rücken und den Beinen, blieb ihr Gesicht im Spiegel dunkel und unscharf, als betrachtete sie den Betrachter von woanders her, durch ein Fenster, nicht mit Hilfe eines Spiegels.
» Er muss eine Camera obscura benutzt haben«, sagte Lucien. Die Camera obscura: eine echte Kamera, die es schon vor Erfindung des Films gab. Das Objektiv stellte das Bild auf den Kopf und projizierte es auf eine Mattglasscheibe, oft mit eingeritztem Raster, sodass der Maler malen konnte, was bereits fotografisch auf zwei Dimensionen reduziert war.
» Wie kommst du darauf?«, fragte Juliette.
» Weil ihr Gesicht verschwommen ist, ihr Hintern aber scharf. Ich meine weich, aber klar. Genau wie der Engel, denn dessen Gesicht ist deutlich zu erkennen, obwohl es sich auf derselben Ebene wie der Spiegel befindet. Er hat die Putte aus der Phantasie gemalt oder bei einer anderen Sitzung. Das Auge des Betrachters stellt sich auf die verschiedenen Elemente einer Szene ein, ungeachtet der Entfernung, aber die Kamera kann nur ein gewisses Maß an Tiefe fokussieren. Hätte er nur das gemalt, was er sah, müsste ihr Gesicht scharf sein.«
» Vielleicht konnte er sie einfach nicht richtig erkennen.«
Lucien wandte sich ihr zu. » Sei nicht albern.«
» Ich? Du bist derjenige, der sich hier Apparate ausdenkt.«
Er lachte, dann schweifte sein Blick von ihr zu dem Gemälde, dann durch den ganzen Raum zu den anderen Bildern, dann wieder zu ihr. » Juliette?«
» Ja?«
» Danke, dass du mir das hier zeigst… diese Bilder.«
» Nützt nur nichts, wenn du sie dir nicht mal richtig ansiehst.« Sie grinste und ging weiter. Er folgte ihr brav, blieb dann jedoch vor einer besonders großen Leinwand stehen, einer Madonna aus der Renaissance.
» Heilige Mutter…«
» Was? Was?« Sie blieb stehen.
» Das ist ein Michelangelo«, sagte Lucien. Zwar war das Bild drei Meter hoch, doch sah es aus, als wäre es Teil eines noch größeren Werkes, vielleicht eines Altars, mit der Madonna in der Mitte und dem Jesuskind, das nach dem Buch in ihrer Hand griff. Ihre Brust war entblößt, aus unerfindlichem Grund, denn ansonsten war sie voll bekleidet. Der Schatten ihres Gewandes war schwarz, doch alles andere war nicht ausgemalt.
» Ich frage mich, wieso er ihren Umhang nicht gemalt hat«, sagte Lucien.
» Vielleicht wurde er müde«, antwortete Juliette.
» Merkwürdig.« Damit ging er weiter, zum nächsten Bild, auch dieses von Michelangelo. » Sieh dir das an.«
Es war eine Pietà namens » Die Grablegung Christi«, und auch auf dieser war der Umhang der Mutter Gottes unausgemalt geblieben, während der Rest des Bildes fertig war.
» Das hier hat er auch nicht beendet«, sagte Lucien. » Auf dem ganzen Bild gibt es kein Blau.« So aufgeregt war er, ein unvollendetes Meisterwerk zu sehen, dass er sie in den Arm nahm und an sich zog. » Du weißt, dass der Mantel der Jungfrau Maria blau sein musste. Man nannte es das Heilige Blau, weil es ihr vorbehalten war.«
» Was du nicht sagst«, sagte Juliette. » Vielleicht sollten wir uns die Turners ansehen, wenn wir schon mal in England sind.«
» Warum hat er das Bild fertig gemalt, aber kein Blau verwendet?«
» Vielleicht weil er ein nerviger, kleiner Pisser war«, sagte Juliette.
» Ein Meister würde nicht mittendrin aufhören zu malen, nur um zu nerven.«
» Und doch stehe ich hier, fast vierhundert Jahre später, und bin genervt.«
» Von Michelangelo?« Lucien war noch nie von einem Gemälde genervt gewesen. Er überlegte, ob das vielleicht ein weiteres Element eines Meisterwerks sein mochte, das er niemals würde erschaffen können. » Meinst du, ich könnte eines Tages auch
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