Verflixtes Blau!
hindern, dass er malt und eine schöne Frau liebt?«
» Wenn Sie es so sagen, klingt es gar nicht mehr gut.«
» Aber das ist es, Monsieur Toulouse-Lautrec. Sie sind Lucien ein guter Freund. Besser, als Sie glauben. Hat Luciens Schwester Ihnen erzählt, woran der Vater gestorben ist?«
» Nein, und Lucien spricht nur von der Liebe seines Vaters für die Malerei.«
» Seine Schwester glaubt, eine ähnliche Liebe für die Malerei hätte ihn umgebracht. Ich will die Farbe prüfen. Es kann ein paar Tage dauern, aber ich werde herausfinden, woraus sie besteht, doch selbst wenn ich etwas feststellen sollte… solange Lucien nicht gerettet werden möchte, dürfte es Ihnen schwerfallen, ihn aus seiner gefährlichen Lage zu befreien.«
» Ich habe einen Plan«, sagte Henri. » Ich kenne die beiden Türsteher des Moulin Rouge, stämmige Burschen, die mit Knüppeln umgehen können. Sollten Sie etwas finden, stürmen wir sein Atelier, schlagen Lucien bewusstlos, reißen ihn von ihr herunter und sperren ihn in mein Atelier, bis er wieder bei Sinnen ist.«
» Sie sind ein noch besserer Freund, als ich dachte«, sagte der Professeur. » Soll ich Sie in Ihrem Atelier aufsuchen, wenn ich meine Ergebnisse habe?«
» Die Adresse steht auf der Karte, aber ich bin oft unterwegs, also sollten Sie mir vorher Nachricht geben«, sagte Henri. » Lucien spricht von Ihnen mit Worten, die er sonst seinen Künstlerhelden vorbehält, und selbst seine Mutter hat freundliche Worte für Sie, was an sich schon ein kleines Wunder ist, also weiß ich, dass dieses Gespräch unter uns bleibt. Ich habe Grund zu der Annahme, dass der Farbenmann gefährlich ist.«
In diesem Moment wurde das Surren eines Motors laut, und etwas huschte unter dem Diwan hervor. Henri schrie auf und hüpfte auf das Sofa. Ein metallisches Insekt von der Größe eines Eichhörnchens fuhr auf dem Boden herum, von einer Nussschale zur nächsten, stieß jede an, dann fuhr es surrend weiter.
» Ah, es muss wohl Mittag sein«, sagte der Professeur.
» Zeit für einen Cognac«, sagte Henri etwas atemlos. » Möchten Sie sich anschließen, Professeur?«
Schon der bloße Gedanke an Carmen vernebelte seine Urteilskraft. Das hätte er merken sollen. Warum sonst konnte er annehmen, eine rothaarige Wäscherin zu finden, von der seit drei Jahren niemand mehr gehört hatte, und dazu in einem arrondissement, in dem fast hunderttausend Menschen lebten? Und dabei sollte er an einer Lithographie für das Moulin Rouge arbeiten, einem Plakat von Jane Avril, und wenn er denn ein wahrer Freund war, sollte er einen weiteren Versuch unternehmen, Lucien zu retten, doch sein Traumbild von Carmen lockte ihn. War es ein Traumbild? Sie war hübsch, aber nicht schön, doch sie besaß eine gewisse Unverfälschtheit, eine Echtheit, die ihn berührte, und er hatte niemals besser gemalt. Worum ging es ihm denn eigentlich? Um das Mädchen oder um das Malen?
» Hast du Schmerzen, mein Kleiner?«, sagte sie oft, die einzige Frau neben seiner Mutter, die so etwas zu ihm sagen durfte. » Soll ich dir die Beine massieren?«
Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte. Was wäre, wenn sie– wie der Farbenmann sagte– gestorben war, vielleicht aus Trauer, weil er sie verlassen hatte? Weil er sie im Stich gelassen hatte?
Als er von einer Wäscherei zur nächsten fuhr, wobei die Droschke stets draußen auf ihn wartete, fand er sich im Marais wieder, dem jüdischen Viertel am rechten Ufer der Seine. Dabei handelte es sich keineswegs um ein Ghetto, denn diese Gegend war ebenso von Baron Haussmann erneuert worden wie die meisten Pariser Stadtviertel, und die Architektur war geprägt von denselben uniformen, sechsstöckigen Gebäuden mit Mansardendächern, sodass sich Hinweise auf einen ökonomischen oder ethnischen Unterschied allein in der zahlenmäßigen Überlegenheit der Goldschmiede, den hebräischen Schildern in den Schaufenstern der Bäckereien und den allgegenwärtigen Chassidim fanden, die sogar in der Augusthitze in ihren langen Mänteln herumliefen. Die Menschen im Marais bemühten sich in letzter Zeit um eine gewisse Unauffälligkeit, da der Antisemitismus als politische Kraft in der Stadt an Einfluss gewann, und ein Jude, den es in die falsche Gegend verschlug, mochte sich den Beschimpfungen eines Trunkenboldes wegen imaginärer Beleidigungen ausgesetzt sehen oder als Zielscheibe einer paranoiden Verschwörungstheorie enden. Zu Henris großem Kummer hatte sich sein Freund, der Maler Adolphe Willette,
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