Verflixtes Blau!
Lucien.
» Absolut brillant«, stimmte Lautrec zu.
Gachet sah Pissarro an. » Ihr wisst, dass Gauguin erzählt hat, er hätte in Arles mit van Gogh gestritten? Vincent wurde so wütend, dass er sich ein Stück von seinem eigenen Ohr abgeschnitten hat. Gauguin sah sich gezwungen, nach Paris zurückzukehren.«
» Danach hat sich van Gogh in ein Sanatorium einweisen lassen, oder?«, fragte Pissarro.
Da setzte Lucien sich auf. » Vincent ging es nicht gut. Das weiß jeder.«
» Sein Bruder sagt, er hätte seit Jahren Anfälle gehabt«, sagte Toulouse-Lautrec.
» Vincent konnte sich an den Streit nicht erinnern«, sagte der Doktor. » Absolut nicht. Mir hat er erklärt, er wüsste nicht, wieso Gauguin aus Arles abgereist sei. Er dachte, Gauguin hätte ihn wegen künstlerischer Differenzen verlassen.«
» Gauguin meinte, Vincent hatte Wutausbrüche, an die er sich am nächsten Tag nicht mehr erinnern konnte«, sagte Pissarro. » Die Gedächtnislücken waren beunruhigender als die Ausbrüche selbst.«
» Alkohol«, sagte Lucien. » Henri fehlen manchmal ganze Wochen.«
» Ich ziehe es vor, sie als Investition zu betrachten, nicht als Verlust«, sagte Toulouse-Lautrec.
» Gauguin meinte, er hätte an dem Tag nichts getrunken«, sagte der Doktor. » Vincent war der Ansicht, seine Leiden hätten mit einem blauen Bild zu tun, das gerade fertig geworden war. Mit blauer Farbe wollte er nur nachts malen.«
Lucien und Pissarro sahen sich an, und ihre Augen wurden immer größer.
» Was?«, fragte Gachet, während sein Blick von dem jungen Maler zu dem älteren und wieder zurück wanderte. » Was, was, was?«
» Ich weiß nicht«, sagte Pissarro. » Wenn ich an diese Zeit denke, spüre ich etwas Unheimliches, Unheilvolles. Ich kann nicht sagen, was es ist, aber es kommt mir vor wie ein Traum. Wie ein Phantomgesicht am Fenster.«
» Wie die Erinnerung eines geprügelten Hundes«, sagte Henri. » So ergeht es mir zumindest mit der Zeit, die mir fehlt. Ich weiß nicht, was passiert ist, aber es ängstigt mich.«
» Genau!«, sagte Lucien. » Als würde die Erinnerung vor mir fliehen, je öfter ich daran denke.«
» Aber sie ist blau«, sagte Pissarro.
» Ja. Blau.« Lucien nickte.
Gachet strich über seinen Bart und blickte wieder hin und her, suchte auf den Mienen der Maler einen Anflug von Ironie, Arglist oder Belustigung. Doch da war nichts.
» Ja, da ist es wieder, das Blau«, sagte Henri. Dann zum Doktor: » Was ist mit Halluzinationen? Wenn man sich an etwas erinnert, das nie passiert ist?«
» All das könnte durch etwas ausgelöst werden, mit dem der Farbenmann die Farbe mischt. Selbst geringe Spuren könnten schuld sein. Es gibt Gifte, die so wirkungsvoll sind, dass eine stecknadelkopfgroße Menge genügt, um zehn Menschen zu töten.«
» Und du glaubst, dass Vincent deshalb Selbstmord begangen hat? Weil er Farbe von diesem kleinen Farbenmann gekauft hat?«, fragte Lucien.
» Da bin ich mir nicht mehr sicher«, sagte Dr. Gachet.
» Nun«, sagte Henri, » bald schon könnt Ihr sicher sein. Ich habe einen Wissenschaftler von der Académie beauftragt, Farbe zu analysieren, die ich bei dem Farbenmann gekauft habe. Wir werden das Ergebnis bald erfahren.«
» Das meinte ich nicht«, sagte Gachet. » Ich meine, ja, möglicherweise stand er unter dem Einfluss einer Chemikalie, nur bin ich nicht mehr überzeugt davon, dass Vincent wirklich Selbstmord begangen hat.«
» Aber Eure Frau sagte doch, er hätte es zugegeben, als er zu Euch kam«, sagte Pissarro. » Er meinte: Ich war es selbst.«
» Das genügte dem Gendarmen, und anfangs habe ich es auch nicht infrage gestellt. Aber überlegt doch mal: Wer schießt sich in die Brust und läuft dann meilenweit zum Arzt? Das tut niemand, der seinem Leben ein Ende setzen will.«
15
Der kleine Herr
D rei Tage nachdem Lucien aus seinem Koma erwacht war, betrat Toulouse-Lautrec die Bäckerei Lessard und fand den jungen Maler nicht nur auf den Beinen vor, sondern damit beschäftigt, große, runde Laibe zu formen und auf Tabletts zu legen, damit sie gehen konnten. Es roch nach Hefe und dem süßen Duft der Konfitüren, die auf dem Herd köchelten.
Bevor er ihm einen Gruß entbot, fischte Henri seine goldene Uhr aus der Westentasche, um nachzusehen, wie spät es war.
» Gott sei Dank. Als ich das Brot sah, dachte ich, es könnte noch vor Sonnenaufgang sein.«
Lucien lächelte. » Dieses Brot ist nicht für heute, Henri. Das war schon vor Stunden fertig. Dieses will
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