Verfuehr mich
Der Sommer dauert noch vier Wochen. Aber im September ist es hier draußen am schönsten. Kühle Nächte, warme Tage. Und nicht allzu viele Menschen am Strand.«
»Aber wir müssen doch arbeiten.«
»Ja«, erwiderte er. »Aber ich kann durchaus mal ein langes Wochenende einschieben. Und ich bin sicher, Vi hat nichts dagegen, wenn du das auch ab und zu tust.«
»Bei Violet Lentone weiß man das nie so genau. Im Moment ist sie gut auf mich zu sprechen. Sagen wir mal so, der Hot-Treats -Auftrag deckt zumindest schon mal die Miete für das Büro ab.«
»Gut.« Er blieb auf einer Lichtung mitten im Schilf stehen. Da bemerkte Bliss plötzlich einen Pfad, den sie vorher übersehen hatte.
»Hey, willst du mal das Restaurant mitten im Nichts sehen?«, fragte Jaz.
Sie starrte in das üppige Grün. Eigentlich konnte sie nur Schilf, Schilf und nochmals Schilf erkennen. Hier und dort wuchsen auch Malven, aus deren riesigen, blassrosa Blütenblättern feine, geile Stempel aufragten.
»Gerne.«
Er ging voran und schob dabei immer wieder das wuchernde Schilf beiseite. Sie mussten hintereinandergehen. »Das ist die andere Seite von Mrs Drakes Besitz.«
»Du meinst die alte Dame, die immer nur im Haus bleibt, wenn sie hier ist?« Bliss hatte in den letzten paar Wochen so ziemlich jeden in Breezy Bay kennengelernt. Jeden, bis auf Mrs Drake. Sie hatte die Bewohnerin zwar ab und zu gesehen, doch die alte Dame blieb lieber für sich – wenn sie das Haus überhaupt mal verließ.
Jaz schritt weiter voran, schob die Halme beiseite und erledigte den ein oder anderen Moskito, der auf seinem Arm landete. Am Ende des schmalen Weges tauchte plötzlich ein hoher Palisadenzaun auf, der fast hinter der grünen Wand aus Sträuchern – Wachsmyrtensträucher und Blaubeerbüsche – verschwand, die ihn umstanden.
Bliss fiel ein verwittertes Schild auf, das vor langer Zeit am Tor aufgehängt worden war – zumindest wenn die rostigen Nägel sie nicht täuschten. Betreten verboten! Das gilt auch für Sie! Auf einem anderen, noch größeren Schild stand lediglich ein Wort. Achtung!
»O je«, entfuhr es ihr. »Ich habe den Hinweis verstanden.« Bliss drehte sich um und wollte schon wieder umkehren.
Doch Jaz packte sie bei der Hand. »Nein. Ist schon in Ordnung. Wir schleichen ganz schnell durch.«
»Und wenn sie nun da ist?«
»Mrs Drake ist doch so gut wie nie da. Das weißt du doch. Sie hasst den Strand.« Trotzdem schien er immer noch mit einer gewissen Vorsicht zu lauschen. »Als ich noch Kind war, hat sie immer den Sand von ihrer Veranda gefegt. Das hat Stunden gedauert.«
»Wieso hat sie denn ein Strandhaus, wenn sie den Strand so sehr hasst?«
»Keine Ahnung. Aber es ist schon seit Ewigkeiten in ihrem Besitz. Sie hört mittlerweile sehr schlecht.« Er griff mit einer Hand über das hohe Tor und zog an einem mit Plastik überzogenen Kabel. Der Griff auf der anderen Seite bewegte sich und das Tor schwang quietschend auf.
Bliss erblickte unglaublich üppiges grünes Gras. »Ein Rasen? Auf Pine Island?«
»Das geht nur, wenn man jedes Sandkorn mit einer Pinzette entfernt. Und genau das hat sie wahrscheinlich getan. Na, komm.«
Sie schritten durch das Tor, schlossen es hinter sich und gingen an dem Drake-Haus vorbei. Die Vorhänge waren zugezogen, und es schien niemand dort zu sein. Jaz führte sie über flache Trittsteine an einem Zaun vorbei, der ein weiteres Anwesen umschloss, das sie nicht sehen konnte.
Er blieb stehen und trat den Zaun an einer der unteren Stellen leicht ein. Dann kroch er drunter durch und hielt die Holzlatte so lange hoch, bis Bliss ebenfalls auf der anderen Seite war. »Hier entlang.«
Bliss bückte sich und folgte ihm einen weiteren Pfad entlang, der sogar noch überwucherter war. Schließlich gelangten sie auf offenes Gelände. Dort am Uferrand stand ein Gebäude mit geschlossenen Rollläden, das ganz aus bemaltem Schlackenstein gebaut war. In der kleinen Bucht war vor langer Zeit ein Bootsanleger gebaut worden, der zum Haupteingang führte, wo die Reste einer gestreiften Markise in einem Metallrahmen im Wind flatterten.
Bliss folgte Jaz durch Sandformationen, die der Wind modelliert hatte. Außer ihren eigenen Fußstapfen waren keine anderen zu entdecken.
»Sehr schön. Wem gehört es?«
»Im Moment gehört der Besitz der Havertown Bank. Ob du’s glaubst oder nicht, hier hat mal jemand versucht, ein mexikanisches Restaurant aufzuziehen. Aber das hat nicht funktioniert und die Bank hat ihm dann die
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