Verführerische Maskerade
trostlos wie am Vormittag. Die Erinnerung an die Unterhaltung in der Kutsche war noch frisch. Unwillkürlich griff sie nach der Öllampe, die angezündet auf der Kommode stand, und machte sich auf den Weg die enge Treppe hinauf zum Dachboden.
Seit Livia im Haus am Cavendish Square eingezogen war, war sie nur ein einziges Mal die Treppe zum Dach hinaufgestiegen. Damals war es dort oben schmutzig und staubig gewesen, voller seltsamer Gegenstände, Koffer und Schachteln. Es hat sich nichts geändert, dachte sie wenig überrascht, als sie auf der Schwelle stand und die Lampe hochhielt. Irgendein Tier flitzte über den Boden in eine dunkle Ecke. Ratten? Mäuse? Oder Eichhörnchen?
Livia war nicht zimperlich, wenn es um Getier ging. Sie hängte die Lampe an einen Haken, der aus einem niedrigen Balken in der Decke ragte, sodass sie die Mitte des Dachbodens ausleuchtete, die Ecken aber im Dunkeln blieben. An den vier runden Fenstern unter der Traufe klebten die Spinnweben wie ein seidiges Netz; aber draußen war es ohnehin so dämmrig, dass es keine Rolle spielte.
Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und fragte sich, wo sie anfangen sollte. Die verstaubten Hussen, unter denen sich offenbar aussortiertes Mobiliar verbarg, interessierten sie nicht. Es würde sie sehr wundern, wenn sie hier oben antiquarische Schätze entdecken würde. Nein, es waren die Koffer und Schachteln, die ihre Aufmerksamkeit fesselten.
Livia mühte sich mit der verrosteten Verriegelung einer eisenbeschlagenen Truhe ab, als sie plötzlich hörte, wie ihr Name gerufen wurde. Cornelias Stimme drang von unten herauf.
»Liv! Liv, wo steckst du?«
»Hier oben, auf dem Dachboden!«, rief sie zurück und fegte sich den Schmutz und den Staub von ihrem Batistkleid.
»Was um alles in der Welt machst du da oben?« Cornelia tauchte am oberen Ende der Treppe auf und schaute sich neugierig um. »Ziemlich schmutzig hier.«
»Ich fürchte, hier ist seit Jahren nicht mehr geputzt worden«, meinte Livia und bedauerte, dass sie sich nicht ihr altes Kleid angezogen hatte. »Ist Ellie bei dir?«
»Ja, sie ist unten bei den Zwillingen. Franny quengelt schon seit Tagen wegen dieser Lebkuchenherzen, die Mavis immer backt. Sie will fragen, ob Mavis ein paar Lebkuchen für sie in den Ofen schiebt.«
»Das wird Mavis freuen«, ergänzte Livia wie abwesend. »Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Vielleicht solltest du dir zuerst die Frage beantworten, was du überhaupt suchst?«, schlug Cornelia vor. »Der Himmel allein weiß, was es hier alles zu finden gibt.«
»Genau das ist der Punkt«, erklärte Livia und umfasste den Dachboden mit einer Handbewegung. »Es könnte alles Mögliche sein.«
»Liv! Nell! Seid ihr dort oben?« Hastig stieg Aurelia die Treppe hinauf und tauchte auf dem Dachboden auf. »Was um alles in der Welt habt ihr hier zu suchen?«
»Das wollte ich auch wissen«, bekräftigte Cornelia, »wenn du möchtest, dass hier aufgeräumt wird, warum beauftragst du dann nicht die Dienstboten, all die Dinge nach unten zu tragen? Dann können wir sie in Ruhe durchsehen.«
»Nein, das macht zu viel Ärger. Eigentlich fühle ich mich hier oben recht wohl. Ihr müsst ja nicht hierbleiben.«
»Oh, doch, das werden wir aber«, beharrte Aurelia entschlossen. »Schließlich haben wir schon dem Regen getrotzt, um dich zu besuchen. Warum sollten wir jetzt kneifen?« Sie beugte sich über die Truhe, mit der Livia sich gerade abgemüht hatte, und schaute sich anschließend um. »Die Schlösser müssen aufgeschlagen werden. Wir brauchen ein Brecheisen oder so etwas.«
»Probier es doch mal damit.« Cornelia schnappte sich eine dünne Metallfeile von einem Tisch, dem ein Bein fehlte.
»Lass mich mal versuchen.« Livia nahm ihr die Feile ab, kniete sich wieder auf den staubigen Boden, setzte die Feile an und versuchte, die Schlösser aufzustemmen. »Und was haben wir jetzt hier?« Sie schlug den Deckel der Truhe auf und nieste, als eine Staubwolke aus dem Innern in ihre Nase stieg.
»Sieht aus wie alte Kleider.« Cornelia lugte ihrer Freundin über die Schulter.
Livia zog die oberste Schicht eines reich bestickten Goldtafts aus der Truhe. »Du lieber Himmel, es muss ihr Ballkleid sein.« Sie schüttelte die Falten aus. »Wahrscheinlich hat die alte Lady einen Reifrock darunter getragen. Vielleicht auch ein Panier oder etwas Ähnliches.«
»Ich glaube, es ist dasselbe Kleid, das Sophia auf dem Porträt im Wohnzimmer trägt«, fuhr
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