Verführerische Maskerade
das Thema anzuschneiden, würde sie es schon merken. Und dann wäre es früh genug.
Cornelia eilte hinauf zu den Kinderzimmern und machte sich innerlich auf den Proteststurm gefasst, wenn sie Linton verkündete, dass sie schon morgen nach London reisen würden.
Als Livia im Morgengrauen erwachte, dachte sie aufgeregt an den bevorstehenden Tag. Sie schlug die Bettdecke zur Seite, stand auf und reckte ihre Gliedmaßen mit dem Gefühl, dass es ihr rundum wohl ging. Dann zog sie die Vorhänge vor den Fenstern zurück, öffnete die Fensterflügel, kniete sich auf die Fensterbank und schaute hinaus in den taubedeckten Square Garden. Der Sonnenaufgang hatte den Himmel in ein sattes Orangerot getaucht, und das Gezwitscher der Vögel erfüllte die Luft, in der bereits ein deutlich herbstlicher Geruch zu spüren war.
Zu dieser Stunde erschien die Stadt frisch und sauber und wie neu. In ein oder zwei Stunden würde sie laut und schmutzig sein, die eisernen Räder der Kutschen würden über das Pflaster rattern, Geschrei würde die Luft erfüllen wie auch der Gestank nach Dung und menschlichem Abfall, nach Schweiß und verrottendem Gemüse, das sich mit dem Geruch von Fleischpasteten und frisch gebackenem Brot vermischte.
Aber im Moment kam es Livia vor, als würde die ganze Stadt nur ihr gehören, und all die Versprechungen, die sich in ihren Mauern verbargen, waren nur für sie gedacht.
Natürlich nur eine alberne Einbildung, aber immerhin eine Einbildung, die ihr einen erregenden Schauder über den Rücken jagte.
Livia sprang von der Fensterbank und eilte zum Schrank. Zum ersten Mal in ihrem Leben wünschte sie sich, mehr zu besitzen als nur ein einziges Reitkostüm. Ihr Reitkostüm war zweifellos sehr elegant, aber der Prinz hatte sie bereits zwei Mal darin gesehen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich. Genau wie ihre Freundinnen verabscheute sie solche Eitelkeiten. Ihr Vater, der strenge Reverend Lacey, war ein Aristokrat, der auf seinen altehrwürdigen Titel verzichtet hatte und die Einkünfte aus seinen Ländereien der Kirche überschrieb. Er zog es vor, so bescheiden zu leben wie ein gewöhnlicher Landpfarrer. Sein einziges Kind hatte er in dem Bewusstsein erzogen, die einfachen Freuden des Lebens schätzen zu lernen, wenn nicht sogar zu lieben; dazu gehörten strenge geistige Exerzitien ebenso wie eine maßvolle Selbstverleugnung.
Ich muss nicht lange darüber nachdenken, was ihm zu einem russischen Prinzen einfallen würde, dachte Livia und lachte leise. Zum Glück hatte er bisher keinen Grund gehabt, ein solch exotisches Wesen neben seiner sorgsam behüteten Pfarrerstochter zu erblicken.
Sie zog das Reitkostüm aus dem Schrank und fragte sich, was sie tun konnte, um mit kleinen Kniffen den Gesamteindruck zu verändern. Als es leise an der Tür klopfte, wusste sie, dass Aurelia aufgestanden war.
»Oh, du bist auch schon auf den Beinen«, grüßte Aurelia fröhlich. »Franny hat mich vor einer halben Stunde aus dem Schlaf gerissen. Ich dachte, ich schaue mal vorbei, ob du schon wach bist. Und ich habe mir überlegt, dass du meine schwarze Jacke zum grünen Rock deines Kostüms tragen solltest. Es würde komplett neu aussehen.« Sie hielt das eng geschnittene schwarze Jackett hoch, das mit goldfarbenen Zierleisten gesäumt war. »Ich glaube, es würde gut passen.«
»Ein wenig gewagt«, meinte Livia, »Grün und Schwarz und Gold. Aber es stimmt, es würde gut passen.« Plötzlich funkelte ein teuflisches Lachen in ihren grauen Augen. »Aber ob es wirklich passt? Du bist schlanker … besonders hier an diesen Stellen …«, sie fuhr mit den Händen unbestimmt über den Busen, »… als ich.«
»Ein körperbetont enges Kostüm kann durchaus schmeichelhaft sein.« Auch Aurelias Augen funkelten verschmitzt, als sie das Jackett aufs Bett legte. »Um welche Uhrzeit triffst du dich mit deinem Prinzen?«
»Er ist wohl kaum mein Prinz«, protestierte Livia. »In seiner Antwort hat es geheißen, dass er mit den Pferden um zehn Uhr am White Hart beim Richmond Gate wartet. Viel zu früh, um nur zum Vergnügen durch den Park zu reiten. Deshalb werden wir wohl ungestört sein.«
»Mit der Droschke wirst du mindestens eine Stunde unterwegs sein«, vermutete Aurelia. »Du solltest spätestens um neun das Haus verlassen.«
»Ja, um neun«, stimmte Livia zu, »wenn ich länger brauche, wird er auf mich warten müssen. Das ist das Vorrecht einer Lady.«
»Genau.« Aurelia nickte. »Vielleicht solltest du noch meinen
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