Verführerische Unschuld
nicht mehr hütete, kam heraus, dass sie sich möglicherweise töten würde. In ihr Vaterhaus zurückbringen konnte ich sie nicht, denn allein in meiner Gesellschaft gesehen zu werden, wäre vielleicht ihr Untergang. Ich konnte sie einfach nicht zur Vernunft bringen. Nicht einmal Angst konnte ich ihr machen. Sie nahm mein Glas und trank den Inhalt, ein Gemisch aus Brandy und Laudanum, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann legte sie sich auf das Sofa, bereit, über sich ergehen zu lassen, was ich …“ Er brach verlegen ab. „Das war ziemlich sonderbar. Als sie ganz bestimmt nicht mehr bei Bewusstsein war, trug ich sie über die Hintertreppe in eine geschlossene Kutsche und fuhr mit ihr hierher. Es ging nicht anders, denn ihrem Ruf zuliebe darf nicht herauskommen, dass ich an ihrem Zustand nicht unbeteiligt bin. Deshalb dachte ich …“
„Dass dein Bruder sich einer Frau annehmen würde, die du entführt hast?“, fragte Miranda mit erhobener Stimme.
Radwell schüttelte den Kopf. „Ich habe sie nicht entführt. Zumindest nicht absichtlich. Ich musste sie vor sich selbst bewahren.“
„Miranda, warum in aller Welt musst du in der Halle herumschreien?“
Radwell wappnete sich vor dem Kommenden. Dies war natürlich der völlig falsche Zeitpunkt für eine liebevolle Versöhnung, wie er sie sich vorgestellt hatte. „Marcus.“
„Pistolen oder Degen?“
„Ich glaube nicht, dass das …“
„Wähl die Waffe und einen Sekundanten.“
„Nein.“
„Wie kannst du es wagen?“ Marcus hob die Hand zum Schlag.
Radwell widerstand der Verteidigungsreaktion, die fünf lange Jahre auf dem Schlachtfeld gestählt worden war, und hielt dem Angriff seines Bruders stand, ohne auch nur die Arme abwehrend zu heben. Der Streich traf ihn auf die Wange, so heftig, dass er taumelte, doch er zwang sich, nicht zurückzuschlagen oder dem Wunsch nachzugeben, sich an seinem Bruder festzuhalten. Durch die Gewalt des Schlages wurde er gegen die Wand geschleudert und sank auf die Knie. Während er wartete, dass das Klingeln in seinen Ohren nachließ, sah er seinem Bruder in das wutverzerrte Gesicht.
„Nein, habe ich gesagt, ich werde nicht mit dir kämpfen. Ich werde nicht zurückschlagen; wenn du mich töten willst, wirst du es kalten Blutes tun müssen. Meinetwegen kannst du mich hinauswerfen, aber wenn es denn sein muss, schick mich wenigstens allein fort.“ Er schaute ostentativ zu Miranda.
„Marcus, warte.“ Miranda hielt ihren Mann am Arm fest, ehe er zum nächsten Schlag ausholen konnte. „Er ist nicht grundlos hier.“
„Du hast immer schon eine schnelle Entschuldigung für ihn gefunden, Miranda.“
„Marcus, du Hohlkopf“, sagte Radwell wütend. „Wenn es dir hilft, schlag noch mal zu, aber sprich in meiner Gegenwart nicht in diesem Ton zu deiner Frau. Sie war dir immer treu ergeben, sehr zu meiner Enttäuschung. Wenn es um mich ginge, würde ich deiner Familie nie wieder zu nahe kommen. Aber hier ist jemand, der den Schutz eines ehrenhaften Mannes braucht, und das kleine Gänschen wählte mich aus. Nimm die junge Dame bitte in deine Obhut. Und schick sie nicht in ihr Heim zurück, ehe du ihr nicht ihre wahren Beweggründe entlockt hast. Es muss da etwas so Grässliches geben, dass sie lieber sterben würde, als es hinzunehmen.“
Er sah seinem Bruder fest in die Augen und erwartete seine Reaktion. Marcus wirkte eher erschöpft als wütend, so, als ob dieser eine Schlag ihn aller Kraft beraubt hätte. Wie schon oft zuvor zeigte seine Miene den Kummer darüber, dass er wieder einmal einen Skandal würde abwenden müssen, weil sein Bruder die Familie aufs Neue enttäuscht und Schande über sich gebracht und damit bewiesen hatte, dass er seine Angelegenheiten nicht selbst ordnen konnte.
Doch nach einem raschen Blick auf das wie leblose Mädchen nickte Marcus zustimmend.
Erleichtert schluckte Radwell und nickte ebenfalls. „Wollt ihr mich dann entschuldigen? Ich entferne mich aus eurem Leben und aus dem des Mädchens und werde euch nicht länger belästigen.“ Ohne Esme Canville noch einmal anzusehen, wandte er sich steif ab und trat durch das Portal auf die Straße hinaus.
3. KAPITEL
Esme schlug vorsichtig die Augen auf und betrachtete den Baldachin über sich. Seltsam, Captain St John Radwells Junggesellenwohnung hatte sie sich anders vorgestellt, aber in ihrem eigenen Zimmer befand sie sich auch nicht. Wo mochte sie sein? Sie konnte sich nicht an eine Kutschfahrt erinnern. Als sie ihren Kopf bewegte,
Weitere Kostenlose Bücher