Verführerische Unschuld
Mirandas Miene sich von Mitleid in Abscheu verkehrte. Gern hätte sie vor dieser vornehmen anmutigen Dame verheimlicht, dass sie von den ständigen Bestrafungen an Körper und Geist gezeichnet war. Neben der Duchess of Haugleigh mit ihrem schwanengleichen weißen Hals, den makellosen Armen und der gelassenen Haltung kam sie sich plump und unrein vor. Und um sie noch verlegener zu machen, strömten ihr nun auch noch die Tränen aus den Augen. Aber dann geschah etwas Wundersames. Die Duchess setzte sich neben sie und umfing sie sanft, strich ihr über das Haar und versprach mit ihrer melodischen Stimme, dass alles gut werden würde und sie sich nicht mehr sorgen solle. Wie befreit sank Esme ihr in die Arme, legte ihren Kopf an diese weiche Schulter und weinte sich aus.
Miranda betrachtete ihren Schwager, der lässig in einem Sessel saß, und ihren Gatten, der in eisigem Schweigen hinter seinem Schreibtisch verharrte. Wenn sie mit Marcus allein wäre, würde die Angelegenheit einfacher zu regeln sein. Aber auch wenn Radwell dieses Mal offensichtlich schuldlos da hineingeschlittert war, betraf ihn die Angelegenheit.
Er selbst sah das anders. „Ich verstehe nicht, warum ich mich einmischen soll. Die Kleine ist besser dran, wenn ich ihr weit aus dem Wege gehe, nicht wahr?“
„Ebenso, wie du besser dran bist, wenn du mir aus dem Wege gehst“, entgegnete Marcus.
„Genau das hatte ich vor, ehe deine Gemahlin mich heute Morgen hierherbefahl. Du möchtest doch nicht, dass ich ihre Wünsche missachte? Vielleicht möchtest du das wirklich – damit ich mich dem herzoglichen Befehl fügen muss, ist es nicht so? Ich bitte um Vergebung, Euer Gnaden.“
„Und nun schleuderst du mir meinen Titel entgegen?“
„Wenn du die Rolle spielen willst, kann ich das wohl kaum ignorieren.“
„Es reicht!“ Miranda trat zwischen die beiden. „Radwell, ich bat dich nicht her, um euch beide streiten zu sehen. Marcus, auch du solltest deine Zunge ein wenig hüten und mir zuhören. Wir sind nämlich wegen jener jungen Dame alle ziemlich in der Klemme; wenn wir gemeinsam überlegen, können wir uns vielleicht herauslavieren.“ Sie sah ihren Gemahl an. „Wenn man ihr glaubt, und ich meine, das kann man, hatte sie Radwell vor letzter Nacht nie getroffen. Einzig seinen Ruf kannte sie. Sie hatte ihn an jenem Tag von ihrem Balkon aus beobachtet, und sie wählte ihn für ihre Zwecke, weil sie glaubte, er habe das Zeug dazu, eine junge Dame unter der Nase ihres Vaters in den Ruin zu treiben und ihr …“
„Und ich habe sie enttäuscht“, bemerkte Radwell. „Hörst du, Marcus? Ich bin nicht so schlecht, wie du mich hinstellst. Oder so dumm. Dazu habe ich denn doch ein wenig zu viel Ehre und Vernunft.“
„Du brauchst mir gegenüber nicht mit deiner wiedergewonnenen Vernunft zu prahlen, dazu ist es zu spät. Bittere Erfahrung hat mich gelehrt, wie weit du dich erniedrigen kannst …“
Miranda schleuderte ihm einen zornigen Blick zu und sprach über den Einwurf hinweg: „…ihr irgendwo ein Nestchen zu schaffen, bis er ihrer überdrüssig wäre, wonach sie einen anderen Gönner zu finden hoffte oder ihrem Leben ein Ende setzen wollte.“
Die beiden Männer verstummten.
„Nach Hause will sie nicht wieder zurück, denn sie muss mit einer harten Bestrafung rechnen, und auch ich meine, dass eine Heimkehr unklug wäre. Aus dem, was sie erzählte, schließe ich, dass ihr Vater rasch und streng reagieren wird. Wir würden sie also in der Gewissheit heimschicken, dass sie heftig verprügelt und in ihrem Zimmer eingesperrt wird, bis sie – gegen ihren Willen – an einen von ihrem Vater schon gewählten, erheblich älteren Mann verheiratet wird.“
Sie merkte befriedigt, dass die beiden Brüder beunruhigte Blicke wechselten. „Es tut mir leid“, äußerte Radwell schließlich, „dass ich euch in diese Sache hineingezogen habe, aber ich wusste wirklich nicht, wohin mit ihr. Anfangs schien mir ihr Gerede völlig unsinnig, deshalb dachte ich, ich sollte sie besser heimschicken, doch sie war so aufgewühlt, dass ich mir Sorgen machte. Und plötzlich, ehe ich sie noch aufhalten konnte, trank sie meinen mit Laudanum vermischten Brandy. Was, wenn sie aufs Neue fortlief, nachdem die Wirkung nachließ? Oder sie sich etwas antat? Oder vielleicht jemandem in die Arme lief, der skrupelloser ist als ich? Ich wollte nicht dafür verantwortlich sein, dass eine kleine Unschuld in ihr Verderben läuft, deshalb brachte ich sie zu euch. Am nächsten
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