Verführerische Unschuld
gedrückte Atmosphäre verantwortlich war. Immer wieder warf der Duke einen düsteren Blick auf den leeren Stuhl, woraufhin Miranda versuchte, ihren Gatten durch eine harmlose Bemerkung oder eine Frage abzulenken, doch stets vergebens.
Als sich endlich die Tür öffnete, folgten alle Blicke Radwell, wie er ohne ein Wort seinen Platz einnahm und zu essen begann.
„Du kommst spät.“ Das war keine Frage, sondern die herrische Aufforderung, sich zu rechtfertigen.
„Es tut mir leid, Marcus. Ich wusste nicht, dass meine Anwesenheit bei den Mahlzeiten zwingend vorgeschrieben ist. Weitere solche Regeln solltest du mir vielleicht schriftlich geben.“
„Nur damit du dich dann darüber hinwegsetzt?“
„Keine Sorge, Bruder, wenn ich mich deinen Regeln widersetze, dann sorge ich dafür, dass du es nicht mitbekommst, damit du dich nicht ärgern musst.“
„Und das tatest du gerade? Regeln brechen, ohne dass ich es merke?“
„Nein. Ich war in meinem Zimmer und habe ein wenig geruht.“
Der Stiel des Glases, das der Duke in der Hand hielt, zerbrach klirrend, und der Wein ergoss sich über das Tischtuch. Esme sah, dass Marcus rasch seine blutende Hand in die Rocktasche schob. „Kannst du nicht wenigstens manchmal die Wahrheit sagen? Vorhin noch deine schwülstige Entschuldigung, und nun dies hier. Du hast geruht? Ha! Fällt dir nichts Besseres ein?“
Radwell schaute ihn wütend an. „Es spielt sowieso keine Rolle, was ich sage, da du alle meine Worte anzweifelst. Ich war in meinem Zimmer und habe geschlafen. Und ich war allein – falls das deine nächste Frage ist.“
„Die nächste Frage würde ich dir nicht hier stellen“, fauchte der Duke.
„Natürlich nicht. Du würdest mir in deinem Arbeitszimmer eine Predigt halten, und mir mit deiner Verbotsliste vor der Nase herumwedeln.“
„Kannst du nicht einmal bei Tisch, im Beisein der Damen, höflich bleiben?“
„Auch das fehlte auf deiner Liste. Es wäre vielleicht einfacher, wenn du aufschriebst, was erlaubt ist, das würde dir Papier und Tinte sparen, da diese Liste beträchtlich kürzer wäre.“
Der Duke, sprachlos vor Zorn, sprang auf und stolzierte aus dem Zimmer, wobei er so heftig gegen das Türblatt stieß, dass der Flügel weit aufflog. Zwei Lakaien sprangen aus dem Weg und folgten dann hastig in seinem Kielwasser.
Miranda erhob sich halb, sank aber mit einem Blick auf die beiden am Tisch Verbliebenen wieder auf ihren Stuhl nieder und nahm ihr Besteck auf, als sei nichts geschehen.
Ein wenig betrübt sagte Radwell: „Mir scheint, mein Bruder ist nicht so glücklich, mich hier zu sehen, wie du gehofft hattest.“
Miranda nahm einen Bissen, ohne den Blick von ihrem Teller zu heben. Sie wandte bemüht viel Aufmerksamkeit aufs Kauen und Schlucken, so als müsste sie, ehe sie sprach, ihre Gefühle ordnen. Schließlich sagte sie: „Vielleicht solltest du ihn nicht provozieren.“
Radwell seufzte. „Wenn er sich vielleicht nicht so schnell provozieren ließe … Ich kam nicht her, um ihn zu reizen. Meine Entschuldigung war ernst gemeint, und ich hatte gehofft, wenn wir eine Weile hier zusammen sind, könnte ich es ihm beweisen. Aber das scheint mir schwierig, da er meine Gesellschaft kaum länger als ein paar Minuten am Stück ertragen kann.“
Kühl entgegnete Miranda: „Es ist ja nicht so, dass er keinen Grund dazu hätte. Eine schlichte Entschuldigung tut es da nicht.“
„Aber es ist ein Anfang. Und ich habe vor, mich Marcus’ Vorschriften zu fügen, auch wenn er es nicht glaubt. Wenn er seinem Ärger erst Luft gemacht hat, können wir vielleicht ganz neu beginnen.“ Er schaute auf seinen Teller nieder und schob ihn dann unberührt von sich. „Aber wer weiß, wann es so weit ist? Ich hatte sehr gehofft …“
Lächelnd hob er den Kopf und griff in seine Tasche, aus der er eine samtbezogene Schachtel hervorzog. „Vielleicht ist das hier hilfreich.“ Er legte sie vor Miranda auf den Tisch. „Ein greifbarer Beweis meiner Absichten. Eigentlich wollte ich es dir in Marcus’ Beisein überreichen, aber nun kann Esme ihm versichern, dass ich mit dieser Gabe nichts Unehrenhaftes beabsichtige. Ich muss eine Schuld begleichen, wenn ich Marcus beweisen soll, dass ich mich geändert habe.“
Miranda öffnete das Kästchen und schreckte zurück, als ob Schlangen darin wären. „Wie kannst du nur!“ Sie sprang auf und eilte aus dem Raum.
Esme stand auf und betrachtete, was Miranda so entsetzt hatte. „Oh, wie herrlich! Aber warum
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