Verführerische Unschuld
übertroffen.“ Er neigte sich zu Miranda und sagte gedämpft: „Hat dein Gatte dir nie erzählt, wie oft er mich aus den Kinderzimmern hierher gelotst hat, um bei einem Fest Kuchen und Limonade zu stibitzen? Weißt du, ich war nicht immer der Schandtäter der Familie, auch Marcus konnte unartig sein. Damals war ich ein süßer unschuldiger Knabe, der nur den großen Bruder nachahmte.“
Zuerst schaute Marcus irritiert, doch dann gab er zu: „Wahrhaftig, das hatte ich ganz vergessen! Aber ich fand immer, die heimlich entwendeten Kuchen schmeckten viel besser als die, die uns die Köchin in die Kinderzimmer schicken ließ. Allerdings glaube ich mich zu erinnern, dass du dich recht leicht verleiten ließest.“ Überrascht lächelnd fügte er hinzu: „Eigentlich konnte ich dich zu jeder Schandtat anstacheln, denn du liefst mir damals nach wie ein kleines Hündchen.“
Radwell wandte sich von seinem Bruder ab. „Nun, Miss Canville, muss ich Sie wirklich förmlich begrüßen? Eigentlich habe ich das Gefühl, Sie schon recht gut zu kennen.“ Er beugte sich tief über ihre Hand, und als er sich wieder aufrichtete, schaute er ihr ein wenig zu lange in die Augen, bis ihre Wangen sich rosig färbten. „Sie sehen heute Abend ganz wunderbar aus.“
Das hat nichts zu bedeuten, dachte Esme, er muss heute allen anwesenden Damen Komplimente machen. Allerdings hatte sie sich im Spiegel gesehen, und es stimmte. Die zartrosa Seidenrobe stand ihr hervorragend, und ihr Haar war elegant frisiert und mit Perlen geschmückt, die Miranda ihr geborgt hatte. Und was für sie das Schönste war: Ihre Arme und ihr Dekolleté wiesen nicht einen blauen Fleck auf. Sie war nicht weniger makellos und schön als die anderen Damen im Saal.
Gut, dass ihr ursprünglicher Plan gescheitert war, denn was hätte er wohl gedacht, wenn er sie an jenem Abend entkleidet und die Quetschungen und Male auf ihrer Haut gesehen hätte? Wer mochte schon eine Frucht mit hässlichen Druckstellen?
Schnell verdrängte sie diesen Gedanken. „Vielen Dank, Sir“, sagte sie und spürte, als sie sein Lächeln erwiderte, abermals das leise Flattern in ihrem Innern, das sie stets zu überkommen schien, wenn er in der Nähe war, oder sie vermutete, dass er in der Nähe war, oder er gar nur im Gespräch erwähnt wurde. Ihr kam der Gedanke, dass das fehlende Flattern der Grund für die seltsame Gleichgültigkeit war, die sie in der Gesellschaft der anderen Herren empfand. Sie mochten alle recht nett sein, aber sie hatten den entschiedenen Nachteil, nicht St John Radwell zu sein.
Er schien jedoch nichts Ungewöhnliches an ihrem Betragen zu bemerken, also standen ihr diese Gefühle zumindest nicht auf der Stirn geschrieben.
„Ja“, meinte er, indem er sie beifällig betrachtete, „wenn Sie in Ballkleidung stets so entzückend aussehen und ihre schönen Augen und ihr erwartungsvolles Lächeln auf die Herren richten, werden Ihnen alle hilflos ausgeliefert sein. Zum Glück bin ich für Ihren Charme unempfänglich, andernfalls befände ich mich bald in Schwierigkeiten.“ Mit einer leichten Verneigung wandte er sich ab, um sich ein Glas Wein zu verschaffen.
Unempfänglich?
„ Ich muss schon sagen, heute Abend beträgt sich Radwell hervorragend.“ Miranda lächelte zu ihrem Gatten auf.
Als ob ich eine ansteckende Krankheit wäre!
„ Ja“, entgegnete der Duke, „welche Überraschung! Zum ers ten Mal seit vielen Jahren habe ich nicht den Wunsch, ihn auf der Stelle erwürgen zu wollen.“
Dieser Wunsch mochte allerdings ansteckend sein, denn Esme hegte ihn im Moment ganz dringend.
„Natürlich“, fuhr Marcus fort, „ist der Abend noch jung; bis Mitternacht stellt er bestimmt noch etwas an, das mich wieder wütend macht. Wegen der Gesellschaften meiner Mutter stimme ich ihm allerdings zu. Und diese Sache mit dem Kuchen … ja, als unser Vater noch lebte …“
Esme folgte dem Gespräch nicht länger, sondern ließ ihre Gedanken schweifen, während sie Radwells Gestalt mit ihren Blicken folgte. Wie konnte er es wagen! Sie bedeutete also Schwierigkeiten? Und er schätzte sich glücklich, ihr widerstehen zu können! Dann sollte er beten, dass ihm das Glück treu blieb, denn urplötzlich fasste sie den Entschluss, dass der einzige Kopf, den sie zu verdrehen wünschte, auf den beeindruckend breiten Schultern Captain Radwells saß.
Sie stürzte sich in das Getümmel des Ballsaals, gewillt, sich bestens zu amüsieren, was sie auch mit beinahe trotziger, boshafter
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