Verführerische Unschuld
recht energisch. „Ich habe keineswegs vor, zu gehen und Ihnen das Feld zu überlassen!“
„Und doch werden Sie gehen! Denn ich sagte Mr. Webberly, dass Sie sich sehr unwohl fühlen, was ihn sofort außerordentlich betroffen machte. Nun hören Sie auf zu erröten, sonst sehen Sie viel zu gesund aus. Miss Ann, haben Sie vielleicht einen helleren Puder?“
Ann verstand sofort, was gemeint war, doch Elisabeth sagte störrisch: „Mir geht es gut.“
„Nein, schlecht geht es dir“, mahnte Ann, während sie eifrig mit der Puderdose hantierte, bis Elisabeths Teint kränklich blass wirkte. „Du musst sofort nach Haus gebracht werden.“
Doch das törichte Mädchen gab immer noch nicht nach. „Ich kann nicht gehen, meine Schwestern wären schrecklich enttäuscht.“
„Die sollen ja auch hierbleiben und später mit Ihren Eltern heimfahren. Bälle gibt es viele, aber keine so romantische Mondnacht wie diese.“
Da Elisabeth immer noch verständnislos schaute, erklärte Esme: „Wenn ich mich nicht allzu sehr irre, erklärt Mr. Webberly gerade Ihren Eltern, dass er Sie in seinem Wagen nach Hause begleiten wird, weil Ihnen ganz plötzlich unwohl wurde. Ich denke, eine Zofe der Duchess kann Sie begleiten, um dem Anstand zu genügen – möglichst eine, die nicht gut hört und sieht. Vielleicht kann man aber auch darauf verzichten, da Mr. Webberly ein langjähriger Freund Ihrer Familie ist. Wenn man danach gehen kann, wie entsetzt er war, als er hörte, dass Sie erkrankt sind, müssen Sie sich um Ihren Ruf keine Sorgen machen; den wird er energisch verteidigen, wenn er Ihnen erst seinen Antrag gemacht hat.“
„Oh, je, mir wird ganz schwach“, sagte Elisabeth.
„So sollte es auch sein. Nutzen Sie die Gelegenheit.“ Mit diesen Worten wandte Esme sich ab. Bevor sich die Tür hinter ihr schloss, hörte sie noch, wie Miss Ann ihrer Freundin sagte: „Sei nur nicht so töricht, seinen stützenden Arm abzulehnen. Klammer dich an ihn, das wird ihn ermutigen!“
Lächelnd und zufrieden schritt Esme zurück zum Saal, doch als sie einen Blick hinunter in die Halle warf, glaubte sie dort eine bekannte Gestalt zu sehen.
Radwell. Sofort schlug ihr Herz schneller. Offensichtlich versuchte er heute Abend ständig, ihr auszuweichen. Kein einziges Mal hatte er sie zum Tanz aufgefordert, obwohl er mehrere andere Damen, einschließlich dieser hasenherzigen Elisabeth, aufs Parkett geführt hatte; und obwohl sie hätte schwören können, dass sein Blick mehr als einmal verstohlen auf ihr ruhte, hatte er doch kein Wort mit ihr gesprochen.
Plötzlich sehnte auch Esme sich nach frischer Luft und hoffte im Stillen, dass auch er den Wunsch verspürte, sich ins Freie zu begeben. Rasch lief sie die Treppe hinab und hinaus in die Gärten, die Miranda für den Ball besonders hübsch hatte herrichten lassen. Kleine Laternen beleuchteten die Wege, und überall standen Bänke bereit, auf denen man den Duft der Rosen genießen und sich am Licht des Vollmonds erfreuen konnte, das auf dem Zierteich spielte. Die Nacht war wunderschön. Wenn auch, wie Esme fand, ein wenig kühl. Sie rieb sich die bloßen Arme. Hätte sie doch nur daran gedacht, einen Schal mitzunehmen.
Hier und da begegnete sie einem Paar oder einer Gruppe von Leuten, lachend oder in Gespräche vertieft, doch keine Spur von Radwell, obwohl sie sich inzwischen recht weit vom Haus entfernt hatte. Hier war der Pfad schon nicht mehr ausgeleuchtet, ein Hinweis für die Gäste, nicht weiterzugehen.
Aber genau genommen war sie ja kein Gast, zumindest nicht so wie die anderen Ballbesucher, und auf dem Besitz hatte sie wohl kaum etwas zu befürchten. Der Vollmond gab Licht genug. Also noch ein kleines Stückchen …
„Suchen Sie mich?“ Als hinter ihr aus dem Dunkel Radwells Stimme erklang, stockte Esme beinahe der Atem. „Nein. Ich meine, ja. Ich wollte …“ Ihr blieben die Worte in der Kehle stecken.
„Sicher, mein Schatz. Allein im finsteren Garten und weit weg von den anderen Gästen. Aber ich sagte es schon einmal: Nein. Dachten Sie, wenn ich Sie in Seide gehüllt und mit strahlenden Augen erblicke, würde ich es mir anders überlegen?“ Mit bewusster Lässigkeit näherte er sich ihr.
War er anders als sonst, oder kam es vom Mondlicht und dem Champagner, den sie getrunken hatte, dass er viel gefährlicher wirkte als am helllichten Tage? Sie blitzte ihn wütend an, wobei sie hoffte, dass er nur diesen Blick sehen würde, nicht aber das Beben, das sie erzittern ließ.
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