Verführerische Unschuld
gut, mit zu vielen jungen Männern im Mondlicht ertappt zu werden.“
Spöttisch erwiderte Esme: „Sagt der Mann, der gleich zweimal mit mir das Mondlicht genoss. Ja, ich werde mich vorsehen und Sie abweisen, wenn Sie mich demnächst allein sprechen möchten. Darf ich nun bitte zurück in den Saal?“
Er spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. „Sehr wohl. Meine Ansicht kennen Sie nun. Ach, noch etwas, Esme …“ Während er den Ohrring hervorzog, sagte er: „Den müssen Sie verloren haben. Ich fand ihn draußen im Gras.“
Hastig betastete sie ihre Ohrläppchen. „Meine Güte! Danke. Ich wäre im Boden versunken, wenn ich Miranda hätte erklären müssen, dass ich ihn verlor.“
Als sie ihn anlächelte, spürte er ihre Dankbarkeit beinahe körperlich. In diesem Moment leitete nicht Mutwille sie, noch hegte sie Hintergedanken oder Berechnung, nur Dankbarkeit und Erleichterung standen in ihrer Miene zu lesen. Und Bewunderung. Er war ihr Held, weil er ihr dieses Schmuckstück zurückgab – wenn er ihr auch die Erlangung desselben in eine hübsche Lügengeschichte verpackt hatte.
„Ich freue mich außerordentlich, dass ich Ihnen zu Diensten sein konnte.“ Ungeschickt kamen ihm die Worte über die Lippen, als er in ihre strahlenden blauen Augen schaute.
Sie nahm den diamantenen Tropfen entgegen und versuchte, ihn wieder anzubringen. „Ach, ohne Spiegel ist das schwierig, ich glaube …“
„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“ Warum hatte er das nun wieder gesagt? Der Anstand gebot eigentlich, dass sie sich in eines der Ruhekabinette zurückzog und sich von einer Zofe behilflich sein ließ. Stattdessen reichte sie ihm den Ohrring und trat näher zu ihm, sodass ihr Duft ihn zart umwehte. Tief atmete er ihn ein, und während er nun den Schmuck an ihrem Ohr befestigte, hoffte er, sie möge das leichte Beben seiner Hände nicht bemerken. Anschließend schien es nur natürlich, eine Hand in ihrem Nacken ruhen zu lassen, während er sein Werk bewunderte.
„Radwell?“ Sie legte den Kopf ein wenig zurück, und ihre Lippen waren so verführerisch nah und lächelten erwartungsvoll.
Es war zum Rasendwerden! Unzählige Frauen hatte er gekannt, die meisten viel intimer als diese hier, und bei keiner hatten seine Hände je gezittert, wenn er sie berührte, und nicht eine war darunter gewesen, deren Blick allein seinen Verstand ausschaltete und seinen Mund trocken werden ließ.
Er schüttelte den Bann ab und zog seine Hand fort. „Ich wollte nur sehen, ob sie beide sicher befestigt sind. Ja, doch, so ist es richtig.“
„Dann geleiten Sie mich besser zurück in den Saal, ehe Ihr Betragen jemandem auffällt.“
„Ja, das wäre wirklich besser.“
Doch er konnte nicht umhin, sich zu wünschen, dass nur einer Person sein Betragen nicht auffallen möge, nämlich Esme Canville.
9. KAPITEL
„Bruder, ich möchte dich sprechen“, rief der Duke aus seinem Arbeitszimmer.
Radwell, der gerade die Halle durchquerte, dachte: Verdammt, vor sechs Jahren, als ich nichts als Teufeleien im Kopf hatte, war diese Tür immer geschlossen, und ich konnte mich im ganzen Haus unbeobachtet herumtreiben, aber nun, da ich nur einen ruhigen Platz für ein harmloses Nickerchen suche, erwischt er mich sofort.
Zähneknirschend spielte er den gehorsamen Bruder und trat ein. „Was habe ich nun wieder angestellt, Euer Gnaden? Mir fällt beim besten Willen nichts ein.“
„Eigentlich nichts, sosehr es mich erstaunt. Aber ich möchte hören, was du hierzu sagst. Miranda möchte ich lieber nicht fragen.“ Vor Marcus auf dem Tisch lagen einige Briefe, von denen er ihm nun einen reichte. „Hier, lies.“
Radwell ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber sinken, nahm das Blatt entgegen und las.
Euer Gnaden,
wie Ihnen sehr wohl bewusst sein muss, ist meine Tochter schon seit Wochen Ihr Gast, und ich möchte annehmen, dass ihr gesundheitlicher Zustand sich stark gebessert hat. Es tut nicht gut, sie zu hätscheln, wenn sie ihre Launen hat, oder sie gar im Ungehorsam zu bestärken …
Zweifelnd blickte Radwell auf. „Nun, da ist was Wahres dran. Natürlich bestärkt ihr sie, ungehorsam zu sein.“
„Doch nur, weil du mir ihre Probleme aufgezeigt hast. Wenn du sie nicht auf unserer Schwelle abgeladen hättest, könnte sie meinetwegen so ungehorsam sein, wie sie will, ohne dass ich je davon erführe. Aber lies den nächsten Brief.“
Während er las, zog er die Augenbrauen immer höher. „Hier behauptet er unterschwellig, dass du sie
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